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In den Fängen der Macht

In den Fängen der Macht

Titel: In den Fängen der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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würde.
    Merrit stand bewegungslos vor ihr, als ob sie die Worte nicht verstanden hätte. Ihr Gesicht war ausdruckslos.
    »Es tut mir Leid«, fuhr Hester bedächtig fort. »Er wurde auf dem Hof vor dem Lagerhaus in der Tooley Street ermordet.«
    »Ermordet?« Merrit kämpfte darum, einen Sinn in etwas zu erkennen, das unbegreiflich erschien. »Was wollen Sie damit sagen?«
    Hester beobachtete sie, registrierte jede flüchtige Regung in ihrem Gesicht, jede Spur des Schmerzes, der Verwirrung und Trauer. Sie empfand es selbst als derbe Zudringlichkeit, aber wenn sie ihr Versprechen Judith Alberton gegenüber halten wollten, blieb ihr keine Wahl.
    »Er wurde gefesselt und erschossen«, sagte sie mit klarer Stimme. »Dasselbe geschah mit den zwei Nachtwächtern. Dann wurde die gesamte Ladung von Waffen und Munition genommen – gestohlen.«
    Merrit war verdutzt, als ob ein Freund sie so hart geschlagen hätte, dass sie nach Luft schnappen musste, um ihre Lungen zu füllen. Ihre Knie wurden weich, und sie setzte sich ungelenk auf das Rad des Lastkarrens, der hinter ihr stand, wobei sie Hester immer noch mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, in denen das Grauen stand.
    Hester konnte es sich nicht leisten, Mitleid zu bekunden, noch nicht.
    »Wer… wer hat das getan?«, fragte Merrit heiser.
    »Philo Trace? Weil Papa die Waffen doch an Lyman verkaufte?« Sie stieß ein lang gezogenes Stöhnen voller Kummer und Trauer aus, und ihre Hände krampften sich ineinander.
    Nur mit Mühe konnte sich Hester davon zurückhalten, sich zu ihr hinunterzubeugen. Sie hätte jedem geschworen, Monk oder auch Judith, dass Merrit glaubte, was sie sagte. Doch sie musste das Mädchen weiter prüfen. Diese Chance würde sich nicht noch einmal ergeben.
    »Lyman Breelands Uhr wurde auf dem Hof gefunden«, fuhr sie fort. »Diejenige, die er dir schenkte. Und du sagtest, du würdest sie nie mehr aus den Augen lassen.«
    Merrits Hand löste sich und flog zu ihrer Brusttasche. Es war eine instinktive, keine beabsichtigte Bewegung, denn einen Moment später erinnerte sie sich. »Ich habe mein Kleid gewechselt«, flüsterte sie. »Ich habe sie abgelegt …«
    »Die Uhr wurde im Schlamm auf dem Hof gefunden«, wiederholte Hester. »Und für die Waffen wurde kein Geld bezahlt. Sie wurden gestohlen.«
    »Nein! Das ist unmöglich!« Merrit sprang auf, taumelte ein wenig. »Philo Trace muss das getan haben… aber was mit dem Geld geschehen ist, das weiß ich nicht. Aber Lyman kaufte die Gewehre! Ich war doch dabei! Er würde niemals… niemals stehlen! Und der Gedanke, er hätte… Mord… das ist ungeheuerlich… das kann nicht wahr sein! Ist es auch nicht!« Ihre Überzeugung entsprang nicht einem Wunsch, sie war absolut und stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie war zornig und traurig, fühlte sich aber nicht schuldig.
    Hester war es nicht möglich, ihr keinen Glauben zu schenken. Hier war kein Urteil zu fällen, kein Aufwägen von Beweisen möglich. Breeland musste die Uhr genommen und im Hof fallen gelassen haben, unabsichtlich oder absichtlich. Aber warum?
    Plötzlich ertönte das Klappern von Hufen, und einen Moment später waren Stimmen zu hören. »Beeilt euch! Macht die Wagen fertig! Die Schlacht findet morgen bei Manassas statt, das ist gewiss! Wir müssen bis zum Morgengrauen dort sein!«
    Hester reagierte, ohne auch nur einen Augenblick an weitere Gedanken zu verschwenden. Jetzt galt es nur, eine Sache zu tun. Breeland, Merrit und die Fragen bezüglich des Mordes oder einer möglichen Geiselnahme mussten warten. Es gab Männer, die schon am nächsten Morgen verwundet sein würden. Grauen erfüllte sie, vertraut wie ein altbekannter Albtraum, und sie antwortete, wie sie es immer getan hatte. »Wir kommen!«

5
    Hester und Merrit verließen Washington gemeinsam und fuhren in Richtung Bull Run. Die Unmittelbarkeit des Krieges überlagerte selbst die persönliche Tragödie, und vielleicht war es für Merrit wenigstens für ein paar Stunden leichter, an die Arbeit zu denken, die ihr bei den verwundeten Männern bevorstand, als ihre Gedanken mit dem, was in dem Lagerhaushof in London geschehen war, zu belasten.
    So schnell es ging, fuhren sie durch die Straßen und dann über die weiten Flächen, über die sich eines Tages die Stadt erstrecken würde, dann überquerten sie über die Long Bridge den Fluss und kamen zu den mittlerweile fast verlassenen Lagern in Alexandria. Die Männer, die sich noch hier aufhielten, waren in früheren Kämpfen im

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