In den Fängen der Macht
ihr Haar hing in Strähnen um ihren Kopf. Sie hatte es sich mit einem in Streifen gerissenen Taschentuch zurückgebunden. Vor Erschöpfung sah sie ganz benommen aus.
»Wir brauchen Ruhe«, sagte Hester. »Müde Menschen machen Fehler, und unsere Fehlentscheidungen könnten Soldaten ihr Leben kosten. Wie heißen Sie?«
»Emma.«
»Im Moment können wir weiter nichts tun. Wir haben Flachs, Heftpflaster, Bandagen, Brandy, Wasserbehälter und Instrumente zur Hand. Jetzt brauchen wir Ruhe, um alles richtig anwenden zu können, und eine ruhige Hand.«
Emma fügte sich. In müder Dankbarkeit aßen sie ein wenig, tranken Wasser aus den Behältern und versuchten, in der Zeit, die von der kurzen Nacht noch übrig war, zu schlafen. Hester lag neben Merrit, und sie wusste, dass das Mädchen nicht schlief. Nach einer Weile hörte sie, dass Merrit leise weinte. Sie berührte sie nicht. Merrit brauchte es, weinen zu können, und dazu war Alleinsein nötig. Hester hoffte, dass diejenigen, die auch noch wach lagen, das Weinen als Angst interpretieren und sie in Ruhe lassen würden.
Monk und Trace war das Gerücht, dass die Schlacht am Sonntag, dem einundzwanzigsten Juli, beginnen sollte, ebenfalls zu Ohren gekommen. Auch hatten sie gehört, dass die letzten Freiwilligen mit Nachschub nach Centreville und in die anderen kleinen Siedlungen in der Nähe von Manassas Junction gezogen waren, bereit, alles zu tun, um zu helfen.
Sie standen auf der Straße direkt vor dem Willard Hotel. Menschen schrien durcheinander. Ein Mann rannte aus dem Foyer und schwenkte seinen Hut durch die Luft. Zwei Frauen klammerten sich weinend aneinander.
»Verdammt!«, rief Trace ungestüm. »Jetzt haben wir keine Chance mehr, Breeland vor dem Kampf zu erwischen! Nun ist es des Teufels Aufgabe, ihn zu finden. Er könnte verwundet werden und in eines der Feldlazarette oder gar hierher zurückgebracht werden.«
»Wir hatten nie eine Chance, ihn vor der Schlacht zu finden«, wandte Monk sachlich ein. »Das Chaos ist unser Verbündeter, nicht unser Widersacher. Und sollte er verwundet werden, müssen wir ihn eben hier lassen. Wird er getötet, dann tut es kaum was zur Sache. Abgesehen davon, dass es schwerer sein wird, den Namen eines Mannes anzuschwärzen, der im Kampf für seine Überzeugungen gefallen ist, welche das auch immer gewesen sein mochten.«
Trace starrte ihn an. »Sie sind ein pragmatischer Hundesohn, was? Unsere Nation ist dabei, sich selbst in Stücke zu reißen, und Sie können so kalt wie einer eurer englischen Sommer bleiben.«
Monk lächelte ihn mit einem schiefen Grinsen an, das seine Zähne entblößte.
»Immerhin besser, als hier den Erstickungstod zu erleiden!«, gab er zurück. »Von einer Erkältung erhole ich mich schneller als von der Malaria.«
Trace seufzte und lächelte zurück, aber seine Lippen bebten, und er war dem Weinen nahe.
Ein Mann stob auf einem Pferd vorbei, schrie etwas Unverständliches und wirbelte eine Staubwolke auf.
Monks Schultern strafften sich. »Unsere beste Chance, Breeland in die Finger zu bekommen, wäre, ihn direkt auf dem Schlachtfeld ausfindig zu machen und dann so zu tun, als wären wir Konföderierte, die einen Offizier der Union gefangen nähmen. Bei dem bunten Kostümfest der Uniformen, das ihr hier veranstaltet, wird ohnehin niemand wissen, wer zu wem gehört! Soweit ich gesehen habe, könnten sich euch vermutlich auch die alten Römer und Griechen anschließen, ohne Aufsehen zu erregen. Ihr habt bereits Schotten mit Kilts und französische Zuaven in jeder Farbe des Regenbogens! Von den Feldbinden um die Hüften, und all dem, was sie auf den Köpfen tragen, angefangen vom Turban bis zum Fez, gar nicht zu reden!«
»Sie sollten eigentlich alle Grau tragen«, sagte Trace kopfschüttelnd. »Und die Union Blau. Gott! Welch ein Durcheinander! Wir werden Freund und Feind gleichermaßen erschießen!«
Monk wünschte sich, ihm irgendeinen Trost anbieten zu können. Wenn hier Engländer gegen eigene Landsleute gekämpft hätten, würde er nicht gewusst haben, wie er es ertragen sollte. Es gab nichts Gutes oder Hoffnungsvolles zu sagen, nichts, was die schreckliche Wahrheit gemildert hätte. Es doch zu versuchen, hätte bedeutet, dass er nichts verstand – oder noch schlimmer: dass es ihn nicht kümmerte.
Sie mieteten sich Pferde – Kutschen oder Wagen waren nicht mehr verfügbar – und ritten durch die Nacht nach Manassas, wobei sie nur einmal kurz abstiegen, um zu rasten. Das Wissen
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