In den Fängen der Macht
einem anderen holte er sie aus dem Bein. Ab und zu erfuhren sie Neuigkeiten vom Fortgang der Schlacht.
»Wir können die Stone Bridge einfach nicht einnehmen!«, keuchte einer der Verwundeten, der mit einer Hand seinen anderen Arm umklammerte, so dass das Blut durch seine Finger quoll.
»Die Rebellen sind verteufelt stark!« Hester schätzte ihn auf ungefähr zwanzig Jahre, sein Gesicht war grau vor Erschöpfung, seine Augen groß und starr. Der Arzt war soeben mit einem anderen Soldaten beschäftigt.
»Kommen Sie, wir werden Sie verbinden«, sagte Hester sanft, ergriff seinen gesunden Arm und führte ihn zu einem Stuhl.
»Bring mir etwas Wasser«, rief sie Merrit über die Schulter zu.
»Auch etwas zu trinken für ihn.«
»Es müssen Tausende sein!«, fuhr der Mann fort und starrte Hester an. »Unsere Jungs sterben… sie liegen überall auf dem Boden verstreut. Man kann ihr Blut in der Luft riechen. Ich stand auf… auf jemandes…« Er konnte nicht weitersprechen.
Hester wusste, was er sagen wollte. Sie war über Schlachtfelder gelaufen, auf denen zerstückelte Leichen lagen, erstarrt im letzten Grauen, zerrissene, zerfetzte menschliche Wesen. Sie hatte gehofft, dies nie wieder sehen zu müssen und ihren Geist davor schützen zu können. Sie wandte den Blick von seinem Gesicht ab und bemerkte, dass ihre Hände zitterten, als sie den Ärmel abschnitt, um die Wunde freizulegen. Um sie herum war der Arm zerfetzt und blutete stark, aber soweit sie es beurteilen konnte, war der Knochen nicht betroffen, und es handelte sich um keine arterielle Blutung, ansonsten wäre er nicht mehr am Leben gewesen und hätte nicht auf eigenen Beinen in die Kirche wanken können. Das Wichtigste war jetzt, die Wunde sauber zu halten und das Geschoss zu entfernen. Zu oft hatte sie Wundbrand gesehen, und den Geruch würde sie nie mehr wieder vergessen. Er war schlimmer als der Tod, eine lebende Nekrose.
»Das heilt wieder.« Sie wollte überzeugend und beruhigend klingen, seine Furcht dadurch mildern, aber ihre Stimme war zittrig, als ob sie selbst Angst hätte. Ihre Hände arbeiteten automatisch. Sie hatte schon so oft dasselbe getan: vorsichtig mit Pinzetten in das Fleisch gebohrt, immer in dem Versuch, keine Schmerzen zu verursachen, aber auch immer in dem Wissen, dass es die reinste Folter war, in der Wunde nach dem kleinen Stück Metall zu suchen, das die Ursache für die Verletzung war. Und immer hatte sie versucht, sicherzugehen, dass sie alles erwischt hatte. Einige Geschosse zersplitterten und hinterließen gefährliche Metallteile. Sie musste schnell arbeiten, denn Schmerz oder Schock konnten tödlich sein, und sie wollte einen hohen Blutverlust vermeiden.
Während sie arbeitete, verfingen sich ihre Gedanken in einem Netz albtraumhafter Erinnerungen, bis sie die Füße der Ratten hörte, als ob sie erneut von ihnen umgeben wäre, als ob sie über den Boden huschten, ihre fetten Körper die Wände herunterrutschten und sie sich pfeifend untereinander verständigten. Sie konnte die menschlichen Abfälle riechen, ihre Konsistenz auf den Fußbodenbrettern unter ihren Schuhen fühlen. Hinterlassen von Männern, die zu schwach waren, um sich zu bewegen, und deren Körper von Hunger, Ruhr oder Cholera ausgezehrt waren. Sie konnte ihre Gesichter vor sich sehen, die hohlen Augen, in denen das Wissen um den bevorstehenden Tod geschrieben stand. Sie hörte die Stimmen, hörte, wie sie von dem sprachen, was sie liebten, wie sie sich gegenseitig versicherten, dass die Sache es wert gewesen sei, wie sie über ein Morgen scherzten, von dem sie wussten, dass es nie kommen würde, und den Zorn unterdrückten, auf den sie größtes Recht hatten, da sie wegen der Ignoranz und der Dummheit anderer betrogen worden waren.
An einige von ihnen konnte sie sich besonders gut erinnern: An einen blonden Leutnant, der ein Bein verloren hatte und an Wundbrand gestorben war, oder an einen walisischen Jungen, der seine Heimat und seinen Hund geliebt hatte und so lange von beidem sprach, bis man ihn damit neckte und ihm sagte, er solle endlich schweigen. Er war an Cholera gestorben. Es gab noch andere, unzählige Männer, die aus diesem oder jenem Grund den Tod gefunden hatten. Die meisten davon waren tapfer gewesen und hatten ihr Grauen und ihre Panik mit sich selbst abgemacht. Einige hatten aus Scham geschwiegen, für andere war Schweigen die Normalität. Mit jedem Einzelnen hatte sie mitgefühlt.
Sie hatte gedacht, dass die Gegenwart, ihre Liebe zu
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