In den Fesseln des Wikingers
Luft aufgelöst. Keine Fußstapfen mehr im feuchten Laub, keine abgeknickten Zweige, die flüchtigen Abdrücke, die hie und da in den Moospolstern zu sehen waren, stammten von Rehen. Dennoch war er noch eine ganze Weile im Wald herumgelaufen, auf Bäume geklettert, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, und hatte gehofft, der Zufall würde ihm zu Hilfe kommen. Später kam ihm die Idee, sie könne zum Meer gelaufen sein, und er hatte den Strand abgesucht, war auf einige der hohen Granitblöcke gestiegen, um Ausschau nach ihr zu halten – doch die Küste war menschenleer. Nicht einmal ein Fischer war zu entdecken, denn es war Ebbe, die Boote lagen am Strand und warteten auf die Flut.
Er ging ein Stück ins Watt hinaus und ließ sich auf einem der Felsen nieder, um den Aufruhr in seinem Inneren zu beschwichtigen und in Ruhe nachzudenken. Doch es gelang ihm nicht, denn jetzt, da er tatenlos dasaß und die Hoffnung, sie zu finden, gesunken war, stürzten Wut und Verzweiflung erst recht auf ihn ein.
Er hatte sie zum Bach hinübergehen sehen und sich nicht viel dabei gedacht. Vermutlich wollte sie sich waschen, vielleicht auch mit ihrer Göttin sprechen – er hatte nicht weiter darauf geachtet. Erst nach einer Weile, als er sie immer wieder mit den Augen suchte, aber nicht entdecken konnte, war er misstrauisch geworden.
„Deine Druidin? Die ist zum Bach hinunter.“
„Nein, sie lief in den Wald hinein. Wahrscheinlich wartet sie dort auf dich, Eishammer!“
„So sind die Weiber. Erst sträuben sie sich, und dann können sie nicht genug bekommen!“
Der Spott der Kameraden störte ihn wenig, denn er wusste, dass es nicht boshaft gemeint war. Sie waren rasch zu deftigen Scherzen bereit, seine Wikinger, und auch er selbst scheute sich nicht mitzuhalten, wenn man gutmütig über einen Kameraden herzog. Doch heute war er viel zu unruhig, um bei den Witzen, die die Kerle auf seine Kosten rissen, mitzulachen.
„In den Wald?“
Er suchte nach ihr, entdeckte ihre Spur und fürchtete zuerst, jemand habe sie mit Gewalt entführt. Doch dafür gab es keine Anzeichen. Sie war freiwillig gegangen, hatte ihn ohne Abschied verlassen und war in westliche Richtung gelaufen.
Zornig erinnerte er sich daran, dass sie die verrückte Idee gehabt hatte, sich irgendwo zu verbergen, um dem Frieden mit Wilhelm nicht im Weg zu sein. Er fluchte vor sich hin. Weshalb waren die Kameraden auch so redselig – er hätte ihr Wilhelms hinterhältige Bedingung gern verschwiegen, denn er hatte bereits geahnt, dass sie auf dumme Gedanken kommen würde.
Dabei hatte er ihr die Wahrheit gesagt: Auch wenn Wilhelm nicht ihre Auslieferung gefordert hätte – nie und nimmer wäre er auf dieses fadenscheinige Friedensangebot eingegangen. Er hatte noch genug von der lächerlichen „Verbrüderung“, die Alain Schiefbart ihm abgerungen hatte. Nein – er wollte ein freier Mann bleiben, dafür würde er kämpfen oder sterben.
Das Watt lag schweigend im Dunst, eine weite, sandige Fläche, aus der hie und da unförmige Granitfelsen ragten, als habe ein Riese braune und graue Kiesel ausgestreut. Ein lästiger Nieselregen durchtränkte sein Gewand, und er spürte, wie sein Zorn in Traurigkeit umschlagen wollte. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und starrte in den Nebel, dachte daran, dass in seiner Heimat vielleicht schon der erste Schnee gefallen war und in seiner Hütte jetzt Dunkelheit herrschte.
War sie vielleicht gar zu Wilhelm Langschwert gelaufen? Hatte sie sich seinem Feind ausgeliefert, um so den Frieden zu ermöglichen? Wollte sie sich für ihn und seine Männer opfern?
Er spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg und schob den Gedanken von sich fort. Nein, so dumm war sie nicht, sich in den sicheren Tod zu stürzen. Und außerdem hätte sie dann in die andere Richtung, nämlich nach Osten laufen müssen.
Und doch …
Ein leichter Wind bewegte jetzt die Dunstschwaden, und er hörte das leise Knistern und Flüstern des feuchten Wattbodens. Bedrückende Gedanken stiegen in ihm auf, er versuchte, sie wegzuschieben, denn sie führten in den Wahnsinn, doch er vermochte es nicht. Woher wollte er so genau wissen, dass sie treu zu ihm hielt? Nur weil er sie liebte? Er hatte schon einmal geliebt und war betrogen worden.
Den Tag lob am Abend, das Schwert, wenn's sich bewährt hat, die Frau, wenn sie tot ist. So sagte ein Sprichwort in seiner Heimat. Konnte es sein, dass Rodena zu seinem Feind übergelaufen war? Hatte sie sich zu Wilhelm
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