In den Fesseln des Wikingers
Rodena verstand nur wenig davon, es schienen uralte Zauberformeln und Sprüche zu sein, die den eigenen Mann unverwundbar machen sollten, dem Feind jedoch Tod und Verderben an den Hals wünschten.
Sie lief zum Tor hinüber, das weit offen stand. Auch hier standen die aufgeregten Wikinger dicht an dicht, schoben sich gegenseitig beiseite und starrten hinaus. Doch Rodena drängte sich an ihnen vorbei und kümmerte sich wenig um das ärgerliche Knurren der Männer, wenn sie sich durch die Lücken zwängte.
„Was hast du zu gaffen, Druidin? Geh in die Hütte und nimm den Fisch aus.“
„Lasst sie nur hier stehen. Vielleicht flößt sie Thore ja Mut ein.“
„Den braucht er nicht. Schon gar nicht von einem Weib.“
Die Wikinger hatten zahlreiche Bäume für ihre Palisaden gefällt, so dass eine breite Lichtung entstanden war. Das Morgenlicht war grau, Wolken verbargen den Himmel wie ein dicht gewebtes Tuch, ein schwacher Wind trieb den feinen Nieselregen über die Fläche und erschwerte die Sicht. Am Ende der Lichtung sah man die feindlichen Krieger als schwarze Schatten zwischen den kahlen Bäumen stehen, auch sie riefen ihrem Anführer Mut zu, und Rodena konnte erkennen, dass hie und da ein Schwert oder eine scharfe Beilklinge aufschimmerte.
Die beiden Kämpfer waren mit langsamen Schritten aufeinander zugegangen und standen sich jetzt in kurzem Abstand gegenüber. Es schienen Worte ausgetauscht zu werden, wahrscheinlich waren es Beleidigungen, die man sich vor dem Kampf entgegenschleudert, um schließlich in wildem Zorn aufeinander einzudringen.
Mit rasendem Herzschlag starrte Rodena auf die beiden Männer. Thore war ein wenig größer als der hochgewachsene Herzog der Normannen, und die mächtigen Muskelpakete, die sich unter dem ledernen Überwurf des Wikingers wölbten, hatte Wilhelm nicht vorzuweisen. Dafür war sein Körper bis hinab zu den Knien von einem Kettenpanzer geschützt, und das lange Schwert, das er mit beiden Händen gefasst hatte, würde seinem Gegner wenig Chancen lassen, allzu dicht an ihn heranzukommen. Thores Schwert war kurz, wie die Wikinger es liebten, eine flinke und unfehlbare Waffe in der Hand eines geschickten Kämpfers.
Aufgeregtes Geschrei erhob sich auf beiden Seiten der Zuschauer, denn Wilhelm hatte den Kampf mit einem wuchtigen Schwertstreich eröffnet. Thore wich dem tödlichen Stahl jedoch geschickt aus und drang nun seinerseits auf den Gegner ein. Der helle Klang, mit dem die Waffen aufeinanderstießen, ging im Gebrüll der Zuschauer unter, und Rodena musste sich in Acht nehmen, von den wild herumfuchtelnden Fäusten der Zuschauer nicht getroffen zu werden.
„Der Feigling trägt ein Kettenhemd.“
„Da dringt Thores Schwert leicht hindurch.“
„Der würde sein Schwert auch durch einen Stein stoßen!“
Die Kämpfer umkreisten sich jetzt – keiner schien bisher einen Vorteil gewonnen zu haben, beide belauerten den Gegner, um herauszufinden, wie er am besten zu packen war. Rodenas Augen hingen jetzt an Wilhelm Langschwert, der zu diesem Streit keinen Helm trug, so dass man sein dunkelblondes, volles Haar sah. Wenn ihre Ahnung wahr sein sollte, dann sah sie ihn jetzt vielleicht zum letzten Mal, denn dieser Kampf würde nur mit dem Tod eines der Kämpfer enden. Konnte dies jener stattliche und edle Mann gewesen sein, von dem ihre Mutter einst erzählt hatte? Wilhelm war zwar älter als Thore, doch seine harten Schwertstreiche zeigten, dass seine Arme noch kräftig waren. Er hatte Mut bewiesen, indem er den jüngeren herausforderte, denn ohne Zweifel hatte er Thore bereits im Kampf gesehen, und er musste wissen, wie stark der Wikinger war. Wieso hatte Kira ihr vorgelogen, ihr Vater sei im Kampf gefallen? Ach, wenn ihre Vermutung stimmte, dann hatte Kira ihr noch mehr Lügen erzählt, denn Wilhelm hatte sich keineswegs wie ein edler Mann verhalten. Er hatte Kira nach dem Leben getrachtet, und wie es schien, wollte er nun auch sie töten. Aber wenn er nun tatsächlich ihr Vater war? Sie spürte einen tiefen Schmerz, denn sie hatte sich immer danach gesehnt, einen Vater zu haben.
Das Toben der Männer erreichte einen neuen Höhepunkt, denn drüben ließen die Kämpfer wieder ihre Schwerter sprechen. Rodena starrte mit wunden Augen auf das Geschehen, ihre Hände verkrampften sich im Stoff ihres Kleides, und sie wusste nur, dass ihr Schmerz und Verzweiflung bevorstanden, ganz gleich, wie der Kampf ausgehen würde. Ihr Vater oder ihr Geliebter – einen der beiden würde
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