In den Fesseln des Wikingers
langes Haar, so dass sie fröstelnd die Schultern hochzog.
Wieso hockte sie eigentlich immer hier in dieser Höhle oder drüben am Bach, um ihrer Göttin zu dienen, während er frei wie ein Vogel umherzog und seine Pläne verfolgte? Ärgerlich stieß sie mit dem Fuß gegen einen der irdenen Töpfe, die sie zum Abwaschen vor die Höhle gestellt hatte. Was war schon dabei, hinunter zum Meer zu laufen? Schließlich trieb sich Thore täglich dort herum, und er schien sich wenig darum zu scheren, dass Wilhelms Leute ihn erwischen könnten. Vorsichtshalber band sie das lange, schwarze Haar in ein Tuch ein, dann nahm sie einen Korb und machte sich auf den Weg.
Sie hatte das Meer seit Wochen nicht gesehen, und während sie über das Grasland lief und der Nordwind den Geruch des Wassers zu ihr trug, spürte sie, wie ihr Herz heftig klopfte. Über das Meer war Thore zu ihr gefahren, hier am Strand hatten sie sich das erste Mal geliebt, und hier war es auch gewesen, dass sie ihn vom Tode errettet hatte. Thore, der Wikinger, war ein Teil dieses unendlich großen Wassers, und deshalb liebte sie das Meer wie ihren Geliebten.
Nur wenige, große Steinblöcke trotzten an dieser Küste der Brandung, sie lagen wie kauernde Fabeltiere im Sand, das Meer hatte sie glattgeschliffen und ihre Füße mit grünem Moos und bunten Muscheln bekleidet. Weit draußen auf der See erkannte sie einige Fischerboote, die viereckige Segel gehisst hatten – war Thore bei ihnen? Sie versuchte sich zu erinnern, an welcher Stelle sie ihn vor Wochen landeinwärts geschleppt hatte, doch es gelang ihr nicht. Sie war viel zu erschöpft gewesen, um auf die Umgebung zu achten, und der Wind hatte alle Spuren längst verweht.
Doch als sie suchend nach Osten blickte, entdeckte sie eine Gruppe Menschen, die sich am Strand entlang auf sie zu bewegten. Einer von ihnen war Thore, der an seiner hohen Gestalt und dem federnden Gang leicht zu erkennen war, die anderen waren weniger gut zu Fuß, einige schleppten sich nur mühsam dahin, auch schienen Kleidung und Schuhwerk nicht im besten Zustand zu sein.
Rodena begriff rasch. Nicht alle Wikinger, die Tod und Gefangenschaft entkommen waren, hatten sich in das Winterlager auf der Seine gerettet. Ein Teil der geschlagenen Kämpfer floh am Meer entlang in der Hoffnung, irgendwo ein Schiff zu erbeuten, dass sie zurück in die Heimat hätte tragen können. Vermutlich waren ihre Drachenboote im Kampf zerstört worden oder in die Hände des Siegers gefallen.
Kopfschüttelnd betrachtete sie die erschöpften Krieger, von denen einige einherstolperten, als könnten sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Mit diesen Männern wollte Thore gegen Wilhelm Langschwerts Kämpfer antreten? Das konnte ja nicht gut gehen.
Abgesehen davon waren etliche von ihnen gewiss Sigurds Anhänger gewesen, die damals auf dessen Geheiß über Thore hergefallen waren. Und jetzt wollte er sie zu seinen Gefolgsleuten machen? Konnte er sich auf solche Kämpfer überhaupt verlassen?
Wenn sie Glück hatte, dann sah er bald selbst ein, dass sein Plan unsinnig war und keine Aussicht auf Erfolg hatte.
Als die Gruppe näher kam, erkannte sie einige Gesichter wieder. Da waren Erik und Olav, die ihr aus der Entfernung begeistert zugrinsten, da war auch Halvdan, der ohne Schuhe lief und sich auf eine schmale, in einen Mantel gehüllte Person stützte.
„Papia!“
Sie stürzte auf das Mädchen zu und schloss es in ihre Arme. Doch Papia rührte sich kaum, nur der Mantelzipfel, den sie um ihr Haar gewickelt hatte, löste sich, und Rodena sah in das blasse Gesicht einer Frau, in der sie die junge, fröhliche Papia kaum wiedererkannte.
„Rodena?“, murmelte das Mädchen. „Weshalb bist du fortgegangen? Ich habe ihn für immer verloren.“
„Ubbe ist gefallen?“, fragte Rodena beklommen.
„Er kam nicht wieder ...“
„Deshalb muss er doch nicht gleich tot sein, Papia!“
„Er ist ganz sicher tot“, gab sie tonlos zurück. „Sonst wäre er doch gekommen, um mich zu holen.“
Rodena hielt das Mädchen umfangen und suchte zugleich den Blick der anderen Männer. Halvdan kratzte sich unangenehm berührt den schmutzigen Hals, Erik zuckte die Schultern, Olavs große, hellblaue Augen schauten voller Mitleid auf Papia.
„Er war ein verdammt mutiger Bursche“, meinte Halvdan. „Freiwillig hat der sich nicht ergeben.“
„Jedenfalls haben wir ihn seit dem Kampf nicht mehr gesehen.“
„Das hat nichts zu sagen. Er kann auch zum anderen Flussufer
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