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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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ein Hochspannungsmast, acht Kabel an vier Armen, die ausgestreckt waren wie bei einer Frau, die beim Schneider ein Kleid angemessen bekam. Die Leitungen hingen über einem Korridor unbebauter Fläche, der mehrere Kilometer schnurgerade durch das Wohngebiet schnitt, ein Mast folgte dem anderen, bis sie schließlich im schmutzig blauen Dunst des mittagsheißen Ozons und im Nichts verschwanden. Ein oder zwei Sekunden sah Araceli den riesigen Mast an und bemerkte, wie seltsam diese Kerbe in den Häuserreihen wirkte. Sie sprang über den niedrigen Zaun mit der Aufschrift »Betreten verboten« und ging unter den Leitungen weiter. Sie dachte sich, hier würde sie wenigstens nicht von den neugierigen Fernsehzuschauern belästigt und könnte den Leitungen nach Norden ins menschenleere Herz der Metropole folgen, in die Sicherheit von Lagerhäusern und Fabrikgebäuden. Ihre Beine mühten sich auf dem unebenen, zugewachsenen Untergrund, sie war in eine Art städtische Wildnis geraten, in ein Beet mit eigenartiger Flora, die sich durch das gelbe Gras drängte. Eine Zypresse, deren Krone wie ein großer Flügel geformt war. Kränkliche Rosensträucher ohne Knospen. Erdbeerpflanzen, die sich an einen Streifen Lehm klammerten. Bambusstauden und eine verkümmerte Palme, deren Blätter wie ein Springbrunnen aus dem Stamm sprossen. Die breiten, hohen Triebe einer Opuntie. Sie war in die Abstellkammer der kalifornischen Gärten gestolpert, wo die Samen vergessener und verworfener Pflanzen keimten und ihre Wurzeln in die trockene einheimische Erde krallten. Wäre sie nicht auf der Flucht gewesen, hätte sie womöglich angehalten, um die sonderbare Landschaft zu betrachten, und dann hätte sie vielleicht auch die Traube von Kameras und Scheinwerfern in der Ferne bemerkt.
    Stattdessen blickte nun etwa achthundert Meter weiter nördlich ein estnischer Kameramann in seinen Sucher. Araceli befand sich, von ihm aus gesehen, unter dem zweiten Mast, eine Frau, die durch die tanzenden Wellen der aufsteigenden Hitze vorwärtsstolperte, die ihre Beine über den verkrauteten Untergrund hob, als würde sie sich durch Schneewehen kämpfen. »Da läuft jemand durch meine Einstellung«, sagte der Kameramann mit geneigtem Kopf, das Gesicht an der Augenmuschel.
    »Schon wieder?«, rief der Regisseur. »Wo?«
    Ungefähr ein Dutzend Mitarbeiter des Filmteams kniffen die Augen zusammen und suchten den Horizont ab. Sie drehten gerade die Schlusssequenz eines Independentfilms mit dem bescheidenen Budget von 3,1 Millionen Dollar, und schon das Auftauchen der Hubschrauber hatte den Tonmeister fast in den Wahnsinn getrieben. Auf Geheiß des Regisseurs hatte der Kameramann den kreisenden Helikopter zwei Minuten und fünfundvierzig Sekunden lang gefilmt, dazu ihren Hauptdarsteller, wie er durch die Hochspannungsleitungen zu ihm aufschaute, und die Mischung aus düsterer Vorahnung und Neugier in seinen Zügen passte bestens zur Atmosphäre des Drehbuchs. Am Ende eines jeden der drei Teile des Films tauchten Hochspannungsmasten auf, und der Kameramann hatte schon andere Masten in den Bergen von San Bernardino und in einer Ebene voller Salzkraut in der Nähe von Henderson, Nevada, sowie in den Grasflächen des Cimarron im südwestlichen Kansas aufgenommen. Die Aufnahme aus Huntington Park war für den Epilog gedacht, die Masten und die verdorrte Erde zu den Füßen des Hauptdarstellers sollten die vergebliche Sinnsuche des Protagonisten in den Casinos von Las Vegas und den Schlachthöfen in Kansas symbolisieren.
    »Ich hab euch doch gesagt, diese Locations in der Eastside sind Scheiße«, sagte der Key Grip. »Hab ich doch gesagt.« Die meisten Einwohner des Viertels hatten sich gut benommen: Sie waren es gewohnt, von Filmteams belästigt zu werden, nur das Auftauchen eines Superstars oder einer mexikanischen Fernsehgröße brachte sie noch in Wallung. Alle paar Minuten war jedoch irgendein Obdachloser oder ein Gangmitglied auf dem Fahrrad ins Bild geraten, irgendwelche Leute, die das Schild nicht gelesen hatten: Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten: Wir bringen ein bisschen Hollywood in Ihre Nachbarschaft!
    »Jetzt sehe ich ihn«, sagte der Regisseur.
    »Sie. Es ist eine Sie.«
    Im gleichen Augenblick stieß ein Hubschrauber in der Nähe der Hochspannungsleitungen herab, und ein Streifenwagen schoss mit quietschenden Reifen auf eine der Straßen, die den brachliegenden Korridor durchschnitten. Zwei Polizisten sprangen aus dem Wagen, und die Frau lief in Richtung

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