In den Klauen des Bösen
Schusswaffe.
Die Waffe zielte auf Michaels Herz.
Michael stand der Realität des Traumbilds gegenüber, das ihn lange gequält hatte; seine Angst war verflogen.
»Verschwinde!« krächzte Carl Anderson. »Ich bringe dich um!«
Michael ließ ihn nicht aus den Augen. »Sie können mich gar nicht umbringen«, hörte er sich sagen, ohne die Worte bewusst formuliert zu haben oder zu verstehen. »Sie wissen doch: Sie können mich nicht töten. Ich bin bereits tot.«
Carl Anderson verschlug es die Sprache. Der unbeirrte Blick des Jungen machte ihm angst.
»Nein!« sagte er. Seine Stimme klang flehentlich. »Laß mich in Ruhe! Ich habe dir nie etwas getan. Keiner von uns hat euch je wehgetan.«
»Unsere Seelen!« sagte Michael. »Ihr habt uns die Seele gestohlen.«
Carls Augen weiteten sich. Die Waffe zitterte heftig in seiner Hand, als Michael näherkam. Er versuchte, den Revolver stillzuhalten, abzudrücken, aber er war vom Blick des Jungen gelähmt. Der Revolver begann seinen Fingern zu entgleiten. »Nein«, murmelte er und griff nach der Waffe, als sein Herz rasend zu schlagen begann, mit einem erschreckend unregelmäßigen Klopfen.
Als Michael nach ihm griff, schlug Carls Angst um in blinde Panik. Ein irrer Schmerz schnitt ihm durch die Brust und fuhr durch Arm und Bein. Die Waffe fiel Carl aus der Hand, seine Hand sank zu Boden.
Das Baby rollte auf den dichten Fichtennadelteppich, als Carls Linke erschlaffte.
Und als die Agonie Carl das Bewusstsein raubte, sah er Dämonen aus der Unterwelt aufsteigen und mit Heugabeln und Fackeln näherstürzen, um ihn auf ewig zu peinigen.
Er schrie verzweifelt auf, als die Dämonen über ihn herfielen, und schlug wie wild um sich, als sie ihn in viele tausend Stücke rissen. Aber es war kein wirkliches Ringen. Es waren die letzten Zuckungen eines Sterbenden.
In der Stille nach Carl Andersons Tod betrachtete Michael die Leiche wie einen fremdartigen Gegenstand.
Dann vernahm er eine innere Stimme.
Nimm dir, was dein ist.
Und als er dies getan hatte, war die ganze Leere seines Lebens wie vergangen. Er fühlte sich heil, und zum erstenmal in seinem Leben begann er zu weinen. Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, und er ließ sie hemmungslos fließen, als sie die Qualen von sechzehn Jahren abspülten.
Als die Tränen endlich versiegten, hob er das Baby vom Boden und wiegte das wimmernde Kind in den Armen. »Es ist alles gut«, flüsterte er. »Jetzt wird dir niemand wehtun.« Als das Schluchzen aufhörte, trat Michael aus dem Dickicht heraus und lief zum Bayou.
Er wusste, was Kelly und er zu tun hatten, sobald das Baby in Sicherheit war.
26
In ihrem Schlafzimmer betrachtete Mary Andersen den letzten noch unausgepackten Karton aus Atlanta. Sie kannte den Inhalt - alte Alben, Ordner mit den Unterlagen über Teds gescheiterten Versuch einer Firmengründung vor drei Jahren, die eigenen Schulzeugnisse; all die Sachen, die ein Mensch aufhebt, doch nur selten anschaut. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, die Dinge zu ordnen, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie die Sachen am Ende doch bloß wieder wegpacken würde. Sie wollte den Karton in die Garage tragen, wo auf den Metallregalen an der Südwand schon haufenweise Erinnerungsstücke ihres Schwiegervaters ausgelagert waren. Beim Durchqueren des Wohnzimmers hörte sie die Türglocke. Sie setzte den Karton auf dem Sofa ab. Vor der Tür stand Barbara Sheffield, mit einem Ausdruck solcher Angst, dass Mary das Willkommenslächeln verging. »Barbara? Was ist geschehen?«
Barbara überlegte rasch, ob sie sich nicht doch einfach umdrehen und wieder heimgehen sollte. Aber sie sah keine Alternative: Die Vermutungen, die ihr nach Jennys Begräbnis gekommen waren, hatten sich in der Nacht und am frühen Morgen zur festen Überzeugung verdichtet: Sie musste mit Mary Anderson sprechen. Sie musste die Wahrheit über Kellys Herkunft erfahren.
Weil sie Mary den Grund des Besuchs am Telefon nicht nennen wollte, hatte sie vorher nicht angerufen. Wie hätte sie selbst wohl reagiert, wenn eine Freundin sie mit der Nachricht angerufen hätte, Michaels richtige Mutter zu sein?
Es war eine Sache, falls eine völlig fremde Person mit einer solchen Nachricht anriefe - mit der Möglichkeit hatten Craig und sie seit Michaels Adoption immer gerechnet. Damit wäre sie fertiggeworden; auch deshalb, weil in solchem Fall Michael keine persönliche Beziehung zu seiner natürlichen Mutter gehabt hätte.
Aber hier lag die Sache anders. Barbara hatte
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