In den Klauen des Bösen
er dennoch nach einer anderen Erklärung für die Anomalie. »Es muss nicht bedeuten, dass Sharon wirklich Kelly ist«, sagte er. »Es gibt Zufälle...«
Barbara unterbrach ihn. »Daran habe ich auch gedacht«, meinte sie. »Ich habe alle Möglichkeiten erwogen. Aber wir haben Sharon nie gesehen, Craig. Keiner von uns. Seit ihrer Geburt nicht. Auch nicht aufgebahrt bei der Beerdigung. Wir haben einfach geglaubt, was man uns erzählt hat.« Da schwang ein Ton der Selbstverurteilung mit, der Craig fast das Herz zerriß.
»Was soll ich tun?« fragte er, und diesmal lag keinerlei Widerspruchsgeist in seiner Stimme.
»Wir müssen die Grabstätte öffnen«, sagte Barbara. »Wir müssen herausfinden, ob Sharon tatsächlich tot ist. Sonst werde ich noch wahnsinnig. Ich halte es nicht mehr aus, Craig. Seit ich Kelly gesehen habe, werde ich das Gefühl nicht mehr los, dass sie Sharon ist. Ich kann es auch nicht erklären. Mir ist durchaus klar, dass die Ähnlichkeit mit Tisha purer Zufall sein könnte. Ich kann mich dennoch nicht des Eindrucks erwehren, dass Kelly unsere Tochter ist.«
Craig kam sich vor, als stünde er an einem gähnenden Abgrund: Wenn er nicht mit äußerster Behutsamkeit vorginge, könnte er jetzt abrutschen und in die Tiefe stürzen. Wenn das Baby, das sie beide sich so sehr gewünscht und dann, ohne es noch gesehen zu haben, verloren hatten - wenn dieses Kind noch am Leben sein sollte...
Er vollendete den Gedanken nicht. Die finstere Wut, die in ihm emporstieg, drohte ihm den Verstand zu rauben.
»Und Mary«, sagte er, nur um abzulenken, »was sagt denn Mary dazu?«
Barbara schloss die Augen. Wenn sie doch nur Marys Aussage umgehen könnte! »Sie... sie sagt, sie wolle es ebenfalls wissen. Kelly sei ihr irgendwie immer unbegreiflich gewesen, irgendwie unvollständig - als ob ihr etwas fehlte.« Barbara zögerte, bevor sie fortfuhr. »Mary hat dafür immer sich selbst die Schuld gegeben, sich im Hinblick auf Kelly Versagen vorgeworfen. Wenn Phillips jedoch etwas mit Kelly angestellt haben sollte...«
Craig griff nach diesem Strohhalm. »Was denn?« wollte er wissen. »Welches Motiv könnte Phillips haben? Mein Gott, er ist Arzt. Ärzte nehmen doch einer Mutter nicht ihr Kind weg.«
»Ich habe noch etwas entdeckt«, sagte Barbara, und ihre Stimme jagte Craig einen Schauer über den Rücken.
Sie holte ein Foto aus der Handtasche und reichte es ihrem Mann. »Erinnerst du dich? Es entstand kurz vor Sharons Geburt.«
Beim Anblick des Bildes nickte Craig. »Ich verstehe nicht, was...«
»Schau dir mal ein paar von den Männern auf dem Bild genau an, Craig. Warren Phillips und Carl Anderson, Orrin Hatfield und Fred Childress. Judd Duval.«
Craig musterte das Foto. »Sie haben sich seither nicht sehr verändert, nicht wahr?« meinte er. Barbara gab keine Antwort. Er spürte ihren bohrenden Blick.
»Sie haben sich überhaupt nicht verändert, Craig«, betonte sie schließlich. »In den letzten sechzehn Jahren ist keiner von ihnen auch nur um einen Tag gealtert. Und das will mir nicht aus dem Kopf. Orrin Hatfield ist der offizielle Leichenbeschauer des County: Er hat die Sterbeurkunde für Sharon und für Jenny unterschrieben. Fred Childress hat beide begraben. Judd Duval fand Jenny im Moor. Und Carl Anderson ist Kellys Großvater.«
Craig wollte den aufkeimenden Gedanken nicht wahrhaben, wollte nicht akzeptieren, was seine Frau ihm da klarzumachen versuchte. An den genannten Fakten war allerdings nicht zu rütteln.
»Da gibt es bestimmt einen Zusammenhang«, sagte Barbara. »Sie tun etwas mit unseren Kindern, was sie selbst jung hält. Sie nehmen ihnen etwas weg, Craig. Ich verstehe das auch nicht und kann es nicht beweisen, aber ich bin mir absolut sicher, dass da ein Zusammenhang besteht. Diese Männer haben unsere Töchter gestohlen, Craig.«
Craig fürchtete, ins Bodenlose zu stürzen. »Das wissen wir nicht«, sagte er verzweifelt.
»Und was ist mit Michael?« fragte ihn Barbara.
Craig sah sie benommen an, begriff aber blitzschnell, was sie meinte. Er stand auf, ging zum Safe und fand das Gesuchte sofort. Nach der Überprüfung von Michaels Geburtsurkunde zog sich ihm der Magen zusammen. Er reichte sie Barbara.
Barbara war merkwürdig gefasst - als ob die Urkunde für sie nur etwas längst Bekanntes bestätigte.
Das gleiche Krankenhaus.
Die gleiche Unterschrift.
»Barbara, es handelt sich nur um eine Vermutung...« begann Craig.
»Meinst du etwa, das wüsste ich nicht? Glaubst du etwa,
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