In den Klauen des Bösen
Das Boot verschmolz mit der Finsternis.
Zuerst war es nur ein leiser Schreckenslaut, wie von einem Tier, das dort draußen im Dunkel überrascht worden wäre. Doch gleich darauf hörte Amelie einen Schrei des Entsetzens, der anschwoll und abbrach.
Amelie glaubte schon, dass alles vorbei sei, bis sie ein Gurgeln wie im Todeskampf vernahm, das langsam verging. Und wieder legte sich Stille über das Moor. Amelie wagte sich nicht zu rühren, bis die Laute der Nacht sich wieder vernehmen ließen.
Für die Tiere im Moor war alles vorbei. Für Amelie hatte es eben erst begonnen; denn der nächtliche Schrei hatte ihr klar gemacht, war geschehen war.
Sie legte das Nähzeug weg und ging ins Innere ihrer kleinen Hütte, um mit hochgehaltener Laterne wieder herauszukommen. Mühsam kletterte sie in ihr Kanu und setzte die Laterne im Bug ab. Sie löste die Leine, stieß das Boot vom Pfahl ab und begann es mit einem Ruder langsam voranzutreiben.
Sie folgte ihrem Instinkt, als sie sich durch die engen Bayous des Moores bewegte, und hatte ihr Ziel nach wenigen Minuten erreicht. Sie schaute ins Wasser, wo ein Mensch auf dem Grund lag, der Amelie aus offenen Augen anstarrte. Sie sah sofort, dass er tot war.
Der Mund stand offen, mit einem Ausdruck von Entsetzen. Aus der Wunde auf der Brust, die sich vom Herzen bis an die Kehle zog, floß noch Blut, das das Wasser ringsum verfärbte. Amelie verspürte eine seltsame Erleichterung - denn obwohl sie mit ihrer Ahnung recht gehabt hatte, hatte sie sich doch geirrt.
Sie hatte eine Leiche gesucht und gefunden. Es war aber nicht die Leiche, mit der sie gerechnet hatte. Der Tote im Wasser sah George Coulton nicht einmal ähnlich.
Sie ruderte zurück, an ihrem Haus vorbei, bis sie in der Ferne eine andere Hütte sah, die sich am Rande des Sumpfes duckte - doch diese Hütte sah der ihren nur von außen ähnlich. Durch die Fenster leuchtete elektrisches Licht. Und hier gab es Telefon.
Amelie seufzte. Es würde eine lange Nacht werden.
4
Als Kelly Andersen vor sich die Fußbrücke sah, wurde sie unsicher. War das die Brücke, über die sie gekommen war? Und was hatte sie während der letzten Stunde eigentlich gemacht?
Sie vermochte sich nicht daran zu erinnern.
Sie wusste nur eines: Als sie über die Brücke gegangen und dem Pfad gefolgt war, der sich durch das Rankenwerk der Insel schlängelte, war es noch hell gewesen. Sie hatte nicht den Eindruck, lange unterwegs gewesen zu sein; wie eine Viertelstunde kam es ihr vor; doch jetzt herrschte tiefste Nacht; hoch oben am Himmel leuchtete der Mond.
Wieso hatte sie den Anbruch der Nacht nicht bemerkt?
Sie würde Ärger bekommen. Sie konnte ihre Eltern schon hören - und sie hatte nicht nur ihr Versprechen gebrochen, sich vom Moorgebiet fernzuhalten; sie wusste nicht einmal, was sie in dieser ganzen Zeit überhaupt getrieben hatte.
Sie forschte in ihrem Gedächtnis.
Sie hatte ein Geräusch gehört, fast wie Musik: Die Töne hatten sie innerlich berührt, hatten gelockt - aber wohin?
Sie wusste es nicht.
Sie sah Bruchstücke von Bildern, die sie nicht zusammenfügen vermochte.
Sie hatte auf einmal das Gefühl, nicht allein gewesen zu sein.
Da waren ganz in ihrer Nähe noch andere Menschen gewesen.
Wer?
Sie hatte eine unklare Vorstellung von Gestalten, die über dem Wasser an ihr vorübergetrieben waren. Irgendwohin. Die Richtung kannte sie nicht.
Sie hatte an etwas teilgenommen; es war ihr vertraut erschienen, doch das Bild war weiterhin verschwommen. Aber wer immer die Menschen in ihrer Nähe auch gewesen sein mochten - es waren Menschen wie sie.
Wie sie.
Aber inwiefern könnten sie ihr gleichen? Kelly war noch keinem Menschen begegnet, der dies Gefühl der inneren Leere kannte, das sie seit jeher quälte.
Doch der Eindruck, in dem Moor dort gleichartige Menschen gefunden zu haben, blieb. Es war wie ein Traum.
Auf der anderen Seite der Brücke blieb Kelly dann auf einmal stehen. Sie hörte das Heulen einer sich nähernden Polizeisirene. Hatten ihre Eltern die Polizei benachrichtigt? Das war doch nicht möglich - so lange konnte sie gar nicht fortgewesen sein!
Unbewusst hielt sie den Atem an, bis die Sirene verklang. Mit einem Seufzer der Erleichterung rannte sie dem Haus des Großvaters entgegen und überlegte bereits, wie sie ihr längeres Wegbleiben am besten erklären könnte.
Als sie wenige Minuten später eintrat, hörte sie vom Wohnzimmer Stimmen: Die Eltern unterhielten sich noch immer mit dem Großvater! Mit
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