In den Klauen des Bösen
Finster würde es erst in etwa einer Stunde. Vielleicht könnte sie sich noch rasch ein bißchen umschauen. Auf dem Weg zur Tür erinnerte sie sich an die mahnenden Worte des Großvaters.
Ich geh doch bloß ein bißchen spazieren, sagte sie sich. Es ist ja nicht, als ob ich eine Verabredung hätte. Warum sollte mir ein Spaziergang hier verboten sein?
Sie trat durch die innere Tür und lief nach unten. Ihre Eltern saßen mit dem Großvater gemütlich zusammen. »Ist es in Ordnung, wenn ich einen Spaziergang mache?« fragte sie. Die Eltern schauten sich unsicher an. Sie glaubte ihre Gedanken zu erraten.
Wo will sie hin?
Was hat sie vor?
Wird sie Probleme bekommen?
Ob sie wieder versucht, sich umzubringen?
Die gute Laune, die während des ganzen Nachmittags geherrscht hatte, war verflogen. Sie drehte sich um. »Macht nichts«, murmelte sie und ging rückwärts wieder hinaus. Aber dann hörte sie die Stimme des Großvaters.
»Was geht hier eigentlich vor?« wollte er wissen. »Sie ist sechzehn. Warum sollte sie um sieben Uhr abends nicht Spazierengehen dürfen?«
Kelly blieb wie angewurzelt stehen. Dann drehte sie sich um. Ihre Mutter schaute den Großvater ganz verängstigt an.
Ihr Vater leckte sich nervös die Lippen.
Keiner sagte ein Wort.
Der Großvater suchte ihren Blick.
»Hast du was Dummes vor?« fragte er. »Wirst du etwa in den Kanal springen?«
Kellys Augen weiteten sich vor Schreck.
»Vater!« sagte Ted scharf, doch Carl brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Jetzt hört mir einmal zu!« grollte er. »Was vor ein paar Wochen vorgefallen ist, weiß hier jeder. Aber ich begreife nicht, warum man deshalb keine einfachen Fragen stellen darf. Wenn ihr Kelly tagtäglich in jeder Minute überwachen wollt, hättet ihr sie vielleicht besser einsperren lassen sollen.«
»Carl!« sagte Mary. »Du kannst nicht verstehen...«
»Sicher nicht«, erwiderte Carl in bereits freundlicherem Ton. »Aber ihr seid unter anderem auch nach Villejeune gezogen, um Kelly eine Chance zu geben. Damit sie ein neues Leben anfangen kann. Warum nicht sofort?«
Mary ließ ihren Schwiegervater nicht aus den Augen. Er hatte ein markantes, faltenfreies Gesicht. Er sah mindestens zwanzig Jahre jünger aus, als er tatsächlich war - vierundsechzig. Sein Haar - ein glänzendes Kastanienbraun, wie Teds - zeigte nicht einen Hauch von Grau, und seine blauen Augen strahlten wie die eines jungen Menschen, der aufbricht, die Welt zu erobern: das Resultat seines Lebenstriumphs, dachte Mary. Er hatte durchgehalten und es schlussendlich zum Erfolg gebracht. Das musste ihm solche Kraft verliehen haben, die sie an ihm früher nie bemerkt hatte.
Er hatte ja recht. Sie waren - das galt für alle drei - zu einem Neuanfang hergezogen - und fingen damit am besten gleich an. Mary wandte sich ihrer Tochter zu.
»Wie lange willst du denn fortbleiben?«
Kelly wurde von einer Woge der Hoffnung erfasst. »Gar nicht lange. Ich möchte nur zum Kanal und mir dort die Häuser ansehen, die Großvater gebaut hat.«
Mary holte tief Atem. »Also gut. Aber sei vor dem Dunkelwerden zurück, ja?«
Kelly nickte. Sie rannte - aus Angst, die Eltern könnten ihre Meinung wieder ändern - aus dem Haus, überquerte den Rasen, blieb bei Erreichen des Fußwegs kurz nachdenklich stehen und bog nach rechts. Jetzt hatte sie keine Eile mehr und schaute sich die Häuser am Kanal aufmerksam an. Sie waren viel kleiner als Großvaters Haus, weil sie von Rentnern bewohnt waren, die nicht so viel Platz brauchten.
»Ich auch nicht!« hatte Großvater am Nachmittag bemerkt. »Ich habe das Haus wohl nur deshalb so groß gebaut, weil ich es mir leisten konnte. Und dann saß ich da - ganz allein. Alte Narren sind die dümmsten. Aber jetzt scheint es sich doch gelohnt zu haben.«
Kelly lief etwa fünfhundert Meter weiter. Alle Häuser sahen sich ähnlich - es gab nur vier Varianten, und auch davon waren zwei bloß spiegelverkehrte Ausführungen der Grundtypen. Weil es Kelly langweilig wurde, begann sie sich für die Moorlandschaft jenseits des Kanals zu interessieren.
Vom Moor hatten die Eltern seit frühester Kindheit erzählt. Es sah aber ganz anders aus, als sie es sich vorgestellt hatte, gar nicht furchterregend mit verschlungenen Ranken und Schlangen und Insekten. Direkt aus der Nähe machte es ihr keine angst. Na gut, an den Zypressen rankten sich Kletterpflanzen hoch, und die Mangroven mit ihren Wurzelverästelungen kamen Kelly schon merkwürdig vor, doch
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