In den Klauen des Bösen
irgend etwas am Moor schien ihr seltsam vertraut.
Als sie das hypnotische Sirren winziger Geschöpfe aus der Wildnis bewusst wahrnahm, verlangsamte sie ihre Schritte und blieb zuletzt horchend stehen. Sie konnte mehrere Töne unterscheiden. Über das Schwirren der Insekten stiegen Vogelstimmen, und das hohe Pfeifen von Baumfröschen bildete einen scharfen Kontrast zu den niedrigen Tönen der Ochsenfrösche.
Eine flüchtige Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie spähte ins Dämmerlicht. Und dann sah sie es, fast war es vom Laub verdeckt - ein Gesicht.
Und so schnell es gekommen war, war es auch wieder verschwunden, so rasch, dass Kelly schon meinte, es sei nur Einbildung gewesen.
War der Mann - der Mann den sie in ihren Träumen und an jenem Abend vor einem Monat im Spiegel gesehen hatte - etwa hierher gefolgt? Nein.
Es war das Gesicht eines Jungen gewesen, ein richtiges, ein lebendiges Gesicht, das sie auf eine völlig unbegreifliche Weise ansprach.
Sie ließ den Blick noch einmal über das Gebiet streifen. Wenige Meter weiter entdeckte sie eine Fußgängerbrücke über den Kanal. Sie zögerte, fasste einen Entschluss: Ganz dunkel würde es erst in einer halben Stunde, und es könnte doch nur ein paar Minuten dauern, den Jungen zu finden.
Sie marschierte los.
Und beim Gehen nahm sie ein neuartiges Geräusch wahr.
Einen Ton, der sie innerlich zu führen schien.
Amelie Coulton saß im Schaukelstuhl auf der Veranda ihrer Baracke, hatte abgetragene Babykleidung im Schoß. Sie hatte nicht so geschickte Hände wie ihre Mutter. Die Nähte waren ungleichmäßig. Sie besserte eine Stelle aus, die sie selbst vor siebzehn Jahren verursacht hatte; das wusste sie von ihrer Mutter. Sie litt unter einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Sie würde noch einmal von vorn anfangen müssen, und das Kleidchen hatte viele Löcher. Bis sie alle gestopft hätte, wäre das Baby bestimmt ein Jahr alt - falls es lebend zur Welt käme.
Der Abend war eigentlich Amelies liebste Tageszeit im Moor. Wenn sie ihre Arbeiten erledigt hatte und George abgehauen war, um sich mit seinen Freunden am Mondschein zu betrinken, konnte sie in ihrem Stuhl sitzen und der Wildnis ringsum lauschen. Den Tieren schaute sie immer gern zu. Da kamen manchmal Alligatoren ganz nah heran, hoben sich neben dem Haus aus dem Wasser und ruhten sich ein Weilchen aus. Sie sprach mit ihnen, und obschon sie wusste, wie albern das war, hatte sie manchmal den Eindruck, dass sie ihr zuhörten und sie verstanden. Und wenn vom Essen ein wenig übrig blieb, etwa ein Stückchen Huhn, warf sie es ins Wasser und beobachtete den Alligator, wie er die Knochen in seinem Mund zermalmte und zufrieden auf einmal verschluckte.
Doch am liebsten hatte sie die Laute des Abends. Auf den Sonnenuntergang freute sie sich jeden Tag, auf die wenigen Minuten, wenn die Tiere des Tages zur Ruhe gegangen waren, bevor die Nachtgeschöpfe des Moors ihr Lied anstimmten, dem Amelie froh zuhörte, bis sie die nie enden wollende Näharbeit wieder aufnahm.
An diesem Abend lag jedoch eine seltsam erwartungsvolle Stille in der Luft.
Das musste wohl auch George fühlen. Er trat plötzlich durch die Tür und stellte sich neben sie, um mit seinem leblosen Blick ins Dunkel zu spähen. Amelie spürte den Zorn, aus dem heraus er sie vorher beinahe geschlagen hätte, als er sein Versprechen noch einmal wiederholen sollte.
»Der kriegt mein Baby nich’«, hatte sie mit einem Zittern in der Stimme gesagt. »Du gibst’s nich’ her so wie Tammy-Jo un’ Quint ihrs weggegeb’n hab’n.«
»Du bis’ verrückt«, hatte George ihr vor einem Monat erklärt, als die Auseinandersetzung zwischen ihnen begonnen hatte. »Du has’ drauß’n im Moor nix gesehn. Das Baby is’ einfach bloß gestorb’n, Amelie. Sonst is’ dem überhaupt nix passiert.«
Er hatte anschließend betont, sie hätte auf der Insel am äußersten Ende des Moors nichts beobachtet; sie müsste alles geträumt haben. Und manchmal glaubte sie im beinahe; denn wenn sie die Insel suchte, konnte sie sie nicht mehr finden. Aber das Versprechen, dass er ihr Baby nicht dem Schwarzen Mann übergeben würde, hatte sie ihm trotzdem abgefordert.
»Ich kann’ dir nix versprech’n«, hatte er zuerst erklärt. »Auch wenn es ihn gibt - aber es gibt ihn gar nich’ -, kann ich nix tun.«
»Du musst es mir versprech’n!« hatte Amelie verlangt. »Du versprichst mir’s. Oder ich bring mich um. Du wirst schon seh’n.«
Am Ende hatte er es ihr
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