In den Klauen des Bösen
identifizieren - wo wäre dann der Beweis für eine Verbindung zwischen diesem mürrischen Jungen mit dem Kaninchengesicht und dem ausdruckslosen Blick und der Leiche?
Er bereute, sich auf die Sache überhaupt eingelassen zu haben. Gleich bei den ersten Erkundigungen war ihm über Villejeune einiges klar geworden. Er hätte die Hinweise von Orrin Hatfield und Warren Phillips, die seit Jahrzehnten in dieser Umgebung lebten, ernst nehmen sollen. Sie hatten genau gewusst, womit er es im Moor zu tun bekommen würde.
Feindseligkeit.
Geheimnistuerei.
Aberglauben.
Ein Wirrwarr von Mythen und Märchen, das er nie würde enträtseln können.
Und wozu auch?
Selbst Amelie Coulton war es egal, dass ihr Mann tot war - falls der Tote überhaupt ihr Mann war.
Und für die Todesumstände hatte sich niemand interessiert - was dem Alten im Moor widerfahren war, schien im übrigen nichts Ungewöhnliches.
Warum also die Sache nicht auf sich beruhen lassen? Warum sollte sich Kitteridge über etwas aufregen, was niemand berührte? Beweisen ließe sich sowieso am Ende nichts.
»Also gut, Jonas«, sagte er mit einem letzten prüfenden Blick. »Das war’s dann wohl.« Er musterte Judd Duval. »Bringen Sie ihn wieder zu seinem Boot.«
Jonas stürzte hinaus, als hätte er Angst, dass der Polizeichef seine Meinung wieder ändern könnte.
Judd Duval sah seinen Chef fragend an. »Na?« fragte er. »Was meinen Sie?«
Kitteridge schüttelte erschöpft den Kopf. »Ich meine, wir haben viel Zeit verschwendet. Der Junge ist vielleicht nicht verrückt - aber so einen Irren wie ihn habe ich lange nicht mehr erlebt. Hält er sich wirklich für tot?«
Duval zog die Schultern hoch. »Typisch Sumpfratte, Glauben alles, was ihnen erzählt wird. Es kann noch so doof sein.« Judd verließ das Zimmer. Draußen winkte er Jonas, ihm zu folgen, redete jedoch erst, als er mit ihm im Streifenwagen saß. »Alles okay«, sagte Judd. »Er hält dich für plemplem.«
Jonas starrte ihn feindselig an. »Du kriegst Probleme, Judd«, knurrte er. »Wenn der Schwarze Mann ‘rauskriegt, dass du dem da geholf’n hast, mich zu find’n...«
»Wird er aber nich’ ‘rauskriegen, wenn du’s ihm nich’ sagst«, drohte Judd. »Verstehst du mich?«
Jonas äußerte keinen Ton mehr, bis sie am Dock ankamen, doch als er in sein Boot stieg, warf er Judd einen so kalten, leeren Blick zu, dass Judd erschauerte, und seine Worte jagten Judd eine Eiseskälte ins Herz.
»Kann sein, er hetzt mich auf dich, Judd«, sagte er. »Kann sein, er hetzt mich auf dich, so wie er mich auf George ‘hetzt hat.«
Er band die Leine los und musterte Judd noch einmal prüfend, als er die Ruder in die schwieligen Hände nahm.
»Ich werd’ dir’s zeig’n, Judd«, sagte er leise. »Ich werd’ dir’s Leb’n aus’m Leib reißen. Wart’s ab.«
Judd blieb wie angewurzelt stehen, als Jonas im Moor untertauchte.
12
Amelie Coulton hob den Kopf, als die Tür ihres Zimmers geöffnet wurde. Als sie sah, wer da kam, wanderte ihr Blick sofort wieder zum geöffneten Fenster, das zum Garten hinausging.
»Wie geht’s heute morgen, Amelie?« fragte Warren Phillips. Als die junge Frau keine Antwort gab, fasste er ihr Handgelenk und fühlte den Puls. »Wissen Sie, Amelie«, sagte er, »es gibt eigentlich keinen Grund, dass Sie hierbleiben. Wenn Sie wollen, können Sie heute nachmittag nach Hause.«
Amelie starrten den Arzt finster an. »Ich geh’ nich’ ohn’ mein Baby«, sagte sie.
Phillips seufzte schwer und ließ sich im Stuhl neben dem Bett nieder. »Amelie - Sie wissen doch, was geschehen ist.«
»Ich versteh nich’, was passiert is’«, widersprach Amelie. »Ich weiß nur: Ich wach’ letzte Nacht auf, un’ mein Baby weint.«
»Das war ein Traum, Amelie«, sagte Phillips. »Glauben Sie mir! Ich verstehe ja, was Sie empfinden...«
Amelies Stimme wurde lauter. »Nein. Sie könn’ gar nich’ wiss’n, wie ich mich fühl’. Un’ mein Baby is’ nich’ tot. Ich bin seine Mama, und wenn’s tot wär’, würd’ ich’s doch wiss’n. Mein’ Sie nicht?«
Dieser Aspekt seiner Arztpflichten war Phillips zuwider. Doch wenn eine Mutter ihr Kind verlor, musste er mit ihr reden, musste er zuhören. »Amelie, ich will versuchen, Ihnen zu erklären, was vorgefallen ist...« Er drückte der jungen Frau besänftigend die Hand.
Amelie riß sich von ihm los, als ob er sie verbrannt hätte. »Ich weiß alles«, sagte sie. »Sie hab’n sich gedacht, ich bin keine gute Mutti und
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