In den Klauen des Bösen
verließ die Klinik, stieg in seinen Wagen und fuhr heim. Er sah noch einmal auf die Uhr. Es würde knapp, aber es müsste sich machen lassen.
Nachdem Phillips und Jolene Mayhew gegangen waren, setzte Amelie Coulton sich auf und spuckte die Pille in die Hand, ging ins Bad und warf sie in die Toilette.
Für wie dumm hielten die sie bloß! Als ob man ihr einfach ausreden könnte, wovon sie überzeugt war, und sie mit einer Pille zum Schlafen bringen könnte! Da irrten die sich aber gewaltig! Sie hatte in der vergangenen Nacht geträumt, und über Träume wusste sie Bescheid. Wie alle Menschen im Moor.
Man konnte in Träumen alles mögliche erleben.
Manchmal konnte man mit Toten reden oder mit Menschen, die man nie wiederzusehen geglaubt hätte.
Manchmal konnte man verreisen, in Teile der Welt, wohin man im wirklichen Leben nie käme. Sie war schon in New Orleans gewesen und in Paris und an vielen Orten.
Und manchmal konnte man in die Zukunft sehen.
Solche Träume hatte Amelie schon oft geträumt. Sie hatte sich in Träumen selbst auch schon viel älter erlebt, als sie jetzt war, und inmitten vieler Kinder.
Und als sie in der vergangenen Nacht von ihrem Baby geträumt hatte und beim Aufwachen spürte, dass der Kleine sie brauchte, war ihr die Bedeutung des Traums klar gewesen.
Der Traum bedeutete: Ihr Baby war überhaupt nicht tot. Der Kleine lebte noch. Er rief nach ihr.
Also, da würde sie doch nicht in der Klinik herumliegen. Das war doch klar. Was immer die hier mit dem Baby getan hatten - die hier würden es ihr nicht wiedergeben.
Sie holte ihr Kleid aus dem Schrank, zog sich an und lief zur Tür.
Aber was hatte sie eigentlich vor? Einfach auf den Flur gehen und Jolene erzählen, sie wolle fort? Und wenn Jolene sie nicht gehen lassen würde?
Aber Dr. Phillips hatte ja erklärt, dass sie heute wieder nach Hause gehen dürfte. Das hatte er ihr gleich zu Beginn seiner Visite versprochen.
Aber hinterher hatte er ihr die Pille gegeben, und sie sollte eigentlich längst eingeschlafen sein.
Sie fasste einen Entschluss, drehte sich von der Tür weg, ging statt dessen zum Fenster, öffnete es und stieg in den Garten hinaus.
Im Garten fühlte sie plötzlich eine Schwäche.
Sie lehnte sich an die Mauer, bis das Schwindelgefühl vorüberging. Dann vergewisserte sie sich, dass sie nicht beobachtet wurde, und stürmte davon, über den Parkplatz ins dichte Gebüsch hinter dem Asphalt, und erst als Kohlpalmen und Riedgras sie umfingen, begann sie sich ein wenig zu entspannen. Sie befand sich zwar noch nicht im Moor, aber das Krankenhaus hatte sie schon mal hinter sich.
Sie könnte das Moor auch ohne Boot erreichen.
Und wenn sie erst einmal dort war, würde sie nach dem Baby suchen - das Baby, von dem Amelie in tiefster Seele überzeugt war, dass es noch lebte.
»Nun, was sagst du dazu?«
Kelly schaute in den Spiegel. Sie erkannte das Gesicht fast nicht wieder, das ihr da entgegenblickte.
Nicht, dass ihre Gesichtszüge sich verändert hätten - aber sie schien ein ganz anderer Mensch. Barbara Sheffield hatte ihr das Haar nicht nur gefärbt, sondern auch gestutzt, es war kürzer und fiel ihr nicht mehr ins Gesicht. Und es war nach hinten gekämmt. Es hatte Glanz. Die neue Farbe - ein heller Honigton, mit ein paar dunkleren Strähnen - schien überhaupt nicht künstlich; ihr Teint wirkte gesünder, das Blau der Augen tiefer. Sie griff nach den Ohrringen, die sie neben dem Waschbecken abgelegt hatte, und zögerte plötzlich.
»Stimmt etwas nicht?« fragte Barbara, glaubte dann aber zu verstehen. »Oh je, es gefällt dir wohl nicht?«
»Aber nein!« widersprach Kelly. »Ich finde es schön. Nur...« Das neue Haar gefiel ihr sogar sehr, nur die Kleidung schien falsch. Und der Schmuck auch.
»Nur was?« setzte Barbara nach. »Ich finde dich schön so. Was meinst du, Jenny?«
Jenny, die der ganzen Prozedur zugeschaut hatte, nickte begeistert. »Wie Kusine Tisha.«
»Wer ist Kusine Tisha?« wollte Kelly wissen.
»Die Tochter meiner Schwester«, erklärte Barbara. »Sie wohnt in Tallahassee.« Sie neigte den Kopf. »Jenny hat recht - du siehst Tisha wirklich ähnlich. Ich muss dir unbewusst Tishas Frisur verpaßt haben. Sie ist meine Lieblingsnichte.« Kelly sagte kein Wort. Barbara seufzte. »Na schön, vielleicht war’s doch keine so gute Idee. Ich will dir sagen, was wir tun werden - wenn das Haar wieder ein bißchen gewachsen ist, mach’ ich dir wieder die alte Frisur.«
Kelly schüttelte den Kopf.
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