In den Klauen des Bösen
versprochen, solche Dinge nicht mehr zu sagen!«
»Aber es stimmt doch!« jammerte Jenny. »Ihr Haar hat doch eine komische Farbe!«
»Du findest die Farbe vielleicht komisch, aber deswegen denken längst nicht alle wie du«, korrigierte Barbara. Sie lächelte Kelly mit einem Ausdruck der Entschuldigung an. »Es tut mir leid. Aber Villejeune ist ein bißchen rückständig. Außer im Fernsehen hat Jenny solches Haar eben noch nie gesehen.«
Kellys Blick verdunkelte sich. »An meinem Haar gibt es nichts auszusetzen, nur weil es rosa ist. Müssen Mädchen denn immer dieselbe Haarfarbe haben?«
Barbara hob mit einem übertrieben defensiven Ausdruck die Arme. »He! Moment mal! Ich bin doch auf deiner Seite. Ich bin dafür, dass du dir dein Haar nach Lust und Laune färben darfst. Wen geht das eigentlich etwas an? Es ist dein Haar. Es muss dir gefallen und sonst niemandem!«
Kellys momentaner Zorn verrauchte. Sie musterte Barbara. War es Michaels Mutter wirklich egal, wie Kellys Haar aussah? Eltern hatten doch immer ganz feste Vorstellungen. »Sie... Sie finden es nicht komisch?«
Barbara zuckte mit den Achseln. »Ich würde die Farbe nicht für mich persönlich aussuchen. Aber entscheidend ist nur eins: Gefällt sie dir?«
Kelly war völlig verwirrt. Darüber hatte sie eigentlich nie nachgedacht. Als sich in Atlanta alle Mädchen die Haare färbten, hatte sie es eben auch getan, und keins der Mädchen hatte je davon gesprochen, ob ihm die Haarfarbe gefiel. Es ging immer nur darum, die Erwachsenen zu provozieren und ihre Reaktionen zu testen. »Ich... weiß nicht.« Kelly war über die eigenen Worte erstaunt. »Das habe ich mich noch nie gefragt.«
Barbara kicherte. »Ist ja auch egal. Du kannst mit deinem Haar machen, was du willst. Und falls das jemand bestreitet, hörst du einfach nicht hin, weil er nämlich unrecht hat. Also«, sagte Barbara, nahm eine Strähne ihres eigenen honigblonden Haares in die Hand und betrachtete es voller Abscheu, »ich überlege selbst, ob ich mir das Haar färben soll. Kastanienbraun? Findest du meine jetzige Haarfarbe etwa nicht langweilig?«
Wollte diese Frau wirklich Kellys Meinung wissen? Es sah jedenfalls so aus. »Um ganz ehrlich zu sein«, sagte Kelly, »mir gefällt Ihr Haar so wie es ist. Die Haarfarbe hab’ ich mir immer gewünscht. Kastanienbraun würde nicht zu Ihren Augen passen. Wir beide haben die gleichen Augen - eine Art von blau, aber nicht richtig blau. Bei kastanienbraunem Haar würden sie nicht mehr so leuchten.«
Barbara seufzte. »Da magst du recht haben.« Sie neigte den Kopf und schaute Kelly nachdenklich an. »Wir könnten dein Haar honigblond färben, wenn du willst.«
Kelly war baff. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
Barbara machte eine Geste. »Ich habe eine Menge Haarfarbe und im Moment sonst nichts zu tun. Vielleicht färben wir Jennys Haar gleich mit. Was haltet ihr davon? Ein Haar-Festival nur unter Mädchen?« Ihr Blick wanderte von Kelly zu Jenny. Kelly wandte sich unsicher an Jenny.
»Sie macht bestimmt nur Spaß?« fragte sie.
Jenny schüttelte den Kopf. »Mami ist zu allem fähig.«
Kelly dachte nach. Warum nicht? Zugegeben, ihre Mutter könnte deshalb ausrasten. Aber ihre Mutter war sowieso immer wütend auf sie.
Und Kelly wusste auch, warum ihre Mutter eine Wut auf sie hatte. Weil Kelly nämlich nicht ihre wirkliche Tochter war. Kelly war ein Kind, das die eigenen Eltern nicht gewollt oder liebgehabt und deshalb weggegeben hatten, und die Adoptiv-Eltern hatten sie auch nicht lieb.
Vielleicht hatten die Adoptiv-Eltern sie ursprünglich einmal liebhaben wollen, doch inzwischen wollten sie Kelly überhaupt nicht mehr.
Vielleicht käme mit ihr alles in Ordnung, wenn Kelly ihre richtige Mutter finden könnte.
Sie versuchte sich ihre wahre Mutter oft genug vorzustellen.
Sie träumte dann von einer verständnisvollen Frau, die nicht dauernd an ihr herumnörgelte.
Jemand wie Barbara Sheffield, dachte Kelly plötzlich.
»In Ordnung«, meinte sie mit einem breiten Grinsen. »Ich fände es prima, wenn ich die gleiche Farbe hätte wie Sie.«
Tim Kitteridge lehnte sich zurück und musterte Jonas Cox genau. Wenn er den Intelligenzquotienten des Jungen angeben müsste, hätte er auf 85 getippt - war nicht gerade helle, aber auch nicht total zurückgeblieben. Jonas saß auf der anderen Seite des Tisches mit immer noch feuchtem Overall auf einem Stuhl mit gerader Rückenlehne und hielt die trüben Augen auf den Polizeichef gerichtet.
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