In den Klauen des Bösen
drei seiner Patienten am Leben zu erhalten. Und Jenny war jung genug, um ihm auf jeden Fall noch ein Jahr lang nützlich zu sein.
Es musste nur verhindert werden, dass der Tod einträte, bevor sie in Fred Childress’ Bestattungsunternehmen geschafft worden war.
21
Das Haus war unbeleuchtet. Sie wusste aber, dass drinnen jemand auf sie wartete. Obwohl das Haus im nächtlichen Dunkel kaum zu sehen war, konnte sie es deutlich erkennen: Die verwitterten, splitternden Balken der Seitenwandung glühten auf ungewöhnliche Weise, als wären sie lebendige Wesen. Ranken krochen an den Mauern hoch, und obwohl sich kein Lüftchen regte, bewegten diese Ranken sich wie Schlangen, wanden sich um die Fenster und krochen zum Dach hoch.
Sie wollte wegrennen, aber irgend etwas hielt sie fest, und als sie sich losreißen wollte, versagten die Beine ihr den Gehorsam und trugen sie immer näher zum Haus.
Sie erreichte die Veranda. Sie spürte, wie die Ranken nach ihr griffen; eine Ranke berührte ihre Haut. Sie wollte zurückweichen; wieder schien ihr Körper ihr nicht gehorchen zu wollen. Als die Ranken sie umfassten und ihr die Arme am Leib fesselten, wurde die Angst unerträglich.
Sie öffnete den Mund und wollte schreien. Sie brachte jedoch keinen Laut hervor.
Die Tür öffnete sich. Im Dunkel erschien eine Gestalt.
Ein Mann, so alt, dass er kaum mehr am Leben schien. Er hatte nur noch wenige dünne Haarbüschel, die mit blutenden Wunden bedeckte Kopfhaut hing lose über dem Schädel. Seine Augen - blaßblau und mit roten Äderchen durchschossen - fixierten sie gierig, und als seine Lippen sich zu einem bösen Grinsen verzerrten, konnte sie die faulenden Zahnstummel erkennen, die fast aus dem Zahnfleisch fielen.
Er streckte die Hand nach ihr aus. Die krallenartigen Finger mit den aufgesprungenen Nägeln berührten ihre Haut.
»Nein!« Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Sie wollte sich tapfer dem gespenstischen Griff entreißen, sich aus den Fangarmen der Zweige lösen.
Es war die Anstrengung dieses Ringens, bevor der Mann sie packte, die Jenny schließlich weckte, und nun schrie sie wirklich, wie ein Mensch, der aus einem bösen Traum erwacht.
Sie riß die Augen auf. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch die dicken Riemen, die sie an das Bett fesselten, gaben nicht nach, so dass sie am Ende tränenüberströmt aufgab.
Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war oder wie lang sie hier schon gefesselt war.
Der Raum hatte keine Fenster. Es war hier andererseits aber nie dunkel. Wenn sie aus dem Schlaf mit seinen gräßlichen Alpträumen aufwachte, war immer Licht.
Sie war nicht allein. Ringsum standen Krippen; in vier Krippen lagen Babys. Ein Baby konnte sie erkennen, wenn sie den Kopf drehte, und als der Traum sie gänzlich aus seinen Fängen entließ, schaute sie genauer hin.
Auch das Baby war aufgewacht und blickte sie aus kleinen Augen an, als verstünde es ihre Angst.
»Es wird schon gut, Baby«, flüsterte Jenny leise und spürte den Trost der eigenen Stimme. »Es war nur ein Traum. Meine Mami sagt, Träume tun einem nicht schaden.«
Ihre Mami.
Warum kam ihre Mami nicht?
Sie hatte Dr. Phillips immer und immer wieder um den Besuch der Eltern gebeten, aber er hatte stets geantwortet: »Wenn es dir besser geht! Du willst doch nicht, dass deine Mami und dein Papi auch krank werden, nicht wahr?«
Sie hörte eine Tür aufgehen und drehte den Kopf zur anderen Seite. Manchmal kam die Frau herein, die nie ein Wort sagte, ganz gleich, wie sehr Jenny sie anbettelte.
Diesmal war es jedoch Dr. Phillips, und als er zu ihr ans Bett trat und lächelnd auf sie herabblickte, begann sie zu weinen.
»Ich habe schon wieder geträumt«, sagte sie. »Von dem Mann - vom alten Mann, der aussieht wie tot.«
»Es war nur ein böser Traum, Jenny. Du musst deswegen keine Angst haben«, hörte sie den Arzt sagen.
»Er macht mir aber angst«, klagte Jenny. »Ich will zu meiner Mami. Warum kann ich nicht zu meiner Mami?«
»Weil du krank bist«, erläuterte Phillips. »Deshalb bin ich ja bei dir. Damit ich mich um dich kümmere. Habe ich mich als Arzt nicht schon immer um dich gekümmert?«
Jenny nickte. Sie kannte Dr. Phillips, solange sie sich erinnern konnte, und er hatte ihr noch nie weh getan, nicht richtig weh. Bei Impfungen hatte es ein bißchen gestochen, doch wenn er die Nadel herauszog, gab er ihr einen Lutscher, und dann hatte sie sich gleich wieder besser gefühlt.
Diesmal ging es ihr allerdings bei jedem Aufwachen
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