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In den Klauen des Bösen

In den Klauen des Bösen

Titel: In den Klauen des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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schlechter.
    Es war ein komisches Gefühl. Beim Einschlafen erhoffte sie sich jedesmal, sich mit dem nächsten Aufwachen wohler zu fühlen. Aber stattdessen kam sie sich dann wie leer vor, als ob in ihr etwas vertrocknete. Sie fühlte eine innere Kälte; beim Gedanken an Vater und Mutter oder auch an Michael empfand sie nicht mehr das gleiche wie früher.
    Sie wünschte zwar noch immer, von ihnen besucht und nach Hause geholt zu werden, aber mit jedem Aufwachen wurde das Verlangen nach ihnen schwächer.
    Statt der schmerzlichen Sehnsucht schien der komische eisige Klumpen in ihrem Innern wieder ein bißchen größer zu werden. Sie war wie betäubt.
    Lag sie etwa im Sterben? Jenny fragte sich, wie das sein mochte - tot zu sein. Sie hatte nur Angst, es könnte sein wie in dem Traum, wenn der Mann sie verfolgte, nach ihr griff und von ihr irgend etwas wollte.
    Doch nach dem Tod würde sie nicht mehr erwachen; dann wäre der furchtbare Traum nie mehr zu Ende.
    Bei dem Gedanken schrak sie zusammen.
    Dr. Phillips musterte sie streng. Sein Blick senkte sich von der Flasche am oberen Ständer, aus der eine klare Flüssigkeit tröpfelte - künstliche Ernährung, die in den Arm eingerührt wurde, wie er Jenny erklärt hatte.
    Es gab noch ein zweites Röhrchen, an einer großen Nadel, die durch einen Klebestreifen an ihrer Brust gehalten wurde. Diese Nadel tat weh, und das Band juckte. Sie konnte sich aber nicht kratzen, weil ihre Arme ans Bett gefesselt waren, und die Fesseln wurden ihr nur abgenommen, wenn sie ins Bad gehen musste.
    »Alles okay? Oder tut dir etwas weh?« fragte Dr. Phillips.
    Jenny schüttelte den Kopf. »Was machen Sie dort?«
    »Ich gebe dir nur ein Mittel in die Nahrung.«
    »Was für ein Mittel?«
    Phillips lächelte ihr zu. »Etwas zum Einschlafen«, sagte er. »Du hast Lavinia doch erzählt, dass du nicht schlafen kannst.«
    Lavinia. So hieß also die Frau, die sie zum Badezimmer brachte und den Babys die Windeln wechselte und manchmal an ihrem Bett saß und sogar freundlich die Hand hielt, obwohl sie nie ein Wort sprach. »Ich will aber gar nicht schlafen«, protestierte sie. »Wenn ich schlafe, kommt doch wieder der Traum.«
    »Nein, das wird er nicht«, versprach Dr. Phillips. »Ich gebe dir ein Mittel, damit der Traum aufhört. Du wirst den Traum während des Schlafens nicht mehr erleben.«
    Jenny sah ihn ängstlich an. »Versprochen?«
    »Ich verspreche es dir«, bekräftigte Phillips. Er brachte die Morphiumphiole an dem IV-Stab an und stellte die Zufuhr um, von der Glukoselösung zum Narkosemittel. »Nun schlaf schön, Jenny«, sagte er. »Wehr’ dich nicht dagegen.«
    Er blieb bei ihr, bis die Wirkung der Narkose einsetzte. Die Fesseln löste er erst, als sie in ein todesähnliches Koma versunken war; dann entfernte er auch die Nadeln aus ihrem Körper. Schließlich hob er sie aus der Krippe und trug sie aus dem Raum ins Erdgeschoß seines abgelegenen Hauses. Er trat aus der Dunkelheit und schaute gen Osten. Noch war vom Sonnenaufgang nichts zu sehen.
    Seit nunmehr drei Tagen brachte er Jenny für die Nacht in seine unterirdischen Kammern und vor Anbruch der Dämmerung wieder nach Villejeune, wo sie tagsüber im narkosebedingten Koma aufgebahrt lag - dem Anschein nach ohne Leben. Nachts hatte er sie in seinem unterirdischen Labor wieder aus dem todesähnlichen Schlaf geweckt und jedesmal mehr von der kostbaren Thymus-Absonderung abgezapft.
    Ihr die Jugend gestohlen, um die eigene zu verlängern.
    Ihr die Seele gestohlen, um seine Sterblichkeit zu verdrängen.
    Nun würde er sie zum letztenmal nach Villejeune zurückbringen. Heute war für Jenny Sheffield ein besonderer Tag - der Tag ihrer Beerdigung.
     
    Nur noch ein paar Minuten, sagte sich Barbara. Nur ein paar Minuten noch, dann bin ich mit Michael und Craig allein und muss mich nicht mehr zusammenreißen.
    Sie saß in dem kleinen, abgedunkelten Alkoven zur Rechten des Altars in der Kapelle des Bestattungsheims von Fred Childress. Obwohl sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn durch einen Schleiervorhang von der restlichen Trauergemeinde abgetrennt war, konnte sie die Gesichter recht gut erkennen und die Bestürzung spüren, die bei der Lobrede auf das kleine Mädchen, dessen Leichnam im Sarg vor dem Altar lag, alle erfasste.
    Hier wurde ein Kind begraben.
    Es war nicht recht - Kinder werden doch nicht beerdigt, für Kinder gibt es Partys: Geburtstagsfeiern, festliche Anlässe wie den Schulabschluss, die Ballnacht auf der High School und zu

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