In den Klauen des Bösen
trafen, doch nicht zum Gruß, sondern wie zur Bestätigung, dass sie mit ihm ein Geheimnis teilte.
Er verstand.
Sie empfand wie er.
Und sie wusste auch, dass er wie sie empfand.
Barbara sah schweigend mit an, wie Jennys Sarg in die Gruft gestellt wurde. Ihr wurde kalt, als die Grabtür sich schloss und der Leichnam ihrer Tochter in der Steinkammer versiegelt wurde. Fast unwissentlich glitt ihr Blick auf das nächste Grab und die Inschrift an der Tür:
SHARON SHEFFIELD
26. JULI 1973
AM GLEICHEN TAGE HEIMGEHOLT VON UNSEREM HERRN
Für Sharon hatte es keine Begräbnisfeier gegeben. Ihr winziger Körper war von der Klinik zu Childress gebracht und sofort begraben worden. Am ersten Sonntag, an dem Barbara sich stark genug gefühlt hatte, war für Sharon in der Kirche ein Gebet gesprochen worden.
Weiter nichts.
Sie hatte Sharon nie gesehen, nicht ein einziges Mal in den Armen gehalten.
Barbara spürte plötzlich eine Bewegung hinter ihrem Rücken. Sie drehte sich um. Amelie Coulton drängte sich durch die kleine Menschengruppe auf dem Friedhof. Ihr ungewaschenes stumpf blondes Haar hing ihr schlaff ins Gesicht. Sie trug ein formloses Kleid, das längst die Farbe verloren hatte.
Aber ihr Blick nahm Barbara sofort gefangen. Wie im Fieber glänzten Amelies Augen von einem inneren Feuer, das auf Barbara übergriff.
»Sie is’ nich’ tot!« sagte Amelie mit bebender Stimme. »Sie is’ genausowenig tot wie mein klein’ Baby tot is’!«
Barbaras Herz tat einen Satz. Was redete Amelie da? Von wem redete sie?
Von Jenny?
Oder meinte sie Sharon?
»Frag’n Sie Clarey Lambert!« fuhr Amelie fort. »Sie weiß es! Sie weiß alles!«
Amelie wurde von zwei Männern gefasst. Sie versuchte sie abzuschütteln, aber die Männer hielten sie fest, damit sie Barbara nicht näherkommen konnte.
»Ich lüg’ bestimmt nich’!« rief Amelie. »Sie müss’n mir glaub’n, Miz Sheffield. Sie war’n so nett zu mir-ich würd’ Sie doch nie belüg’n!«
Barbara drehte den Kopf.
»Ist schon gut, Barbara«, hörte sie eine Männerstimme. »Wir schaffen sie fort...«
»Nein!« Barbara hatte ihre Stimme wiedergefunden. »Lassen Sie sie los! Bitte! Sie ist in Ordnung!«
Die Männer zögerten, gaben Amelie dann aber frei, die nach kurzem Zögern auf Barbara zutrat und ihr zärtlich die Hand auf den Arm legte. »Ich täusch’ mich nich’«, sagte sie. »Wenn Ihr Baby tot wär’, würd’n Sie’s wiss’n. So was weiß ‘ne Mutter.« Sie wollte offenbar, noch etwas sagen, sprach es dann aber doch nicht aus, sondern verschwand so rasch wie sie gekommen war.
Ihre Worte aber ließen Barbara keine Ruhe.
Könnten sie wahr sein?
Nein!
Nach der Trauerfreier ruhten Barbaras Augen auf Kelly Andersen, die ihrer Nichte Tisha so ähnlich sah.
Wenn Sharon lebte, wäre sie genau in dem gleichen Alter wie Kelly.
Kelly war von ihren Eltern adoptiert worden...
Kelly kam näher. Sie war ernst. Trotz des leichten Make-ups, das sie trug, wirkte sie blaß.
»Es tut mir ja so leid, Mrs. Sheffield«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich...«
Barbara legte den Arm um die Schulter des Mädchens. »Du musst gar nichts sagen, Kelly«, flüsterte sie. »Ich bin so froh, dass du da bist. Bei deinem Anblick ist mir manchmal, als ob ich meine beiden Mädchen gar nicht verloren hätte. Dann kommt es mir fast so vor, dass Sharon überhaupt nicht gestorben ist. Als ob du meine große Sharon wärst.« Kelly reagierte verkrampft. Barbara bereute ihre eigenen Worte sofort. »Entschuldige«, sagte sie und wischte sich die Augen. »Das hätte ich nicht sagen dürfen...«
Doch bevor sie weiterreden konnte, schnitt Kelly ihr das Wort ab. »Ist schon gut, Mrs. Sheffield«, sagte sie so leise, dass Barbara es kaum hören konnte. »Ich wünsche mir doch, dass Sie es wären..., falls ich meine richtige Mutter je wiederfände.«
Ihre Blicke trafen sich. Keine sprach. Kelly wandte sich ab. Barbaras Blicke folgten ihr, als sie sich wieder neben ihre Eltern und den Großvater stellte.
Wer ist sie wirklich? fragte sie sich. Woher mag sie stammen?
Und mit einer gänzlich ungewohnten Intensität empfand sie auf einmal die Notwendigkeit, eine Antwort zu finden.
Kelly und Michael saßen am Dock hinter dem Haus der Sheffields. Sie hörten die Gespräche weiter oben, auf dem Rasen, wo sich jetzt, nach einer Stunde, die ersten Trauergäste verabschiedeten. Die engsten Freunde der Eltern würden aber gewiss bis in den Abend bleiben, um der Mutter Beistand zu
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