In den Klauen des Bösen
guter Letzt die Hochzeit.
Aber doch keine Begräbnisse.
Wie sollten die Menschen sie hinterher trösten? Beim Tode eines alten Vaters oder einer alten, kranken Mutter fanden sich leicht Worte des Trostes.
»Es ist ein Segen für sie, Barbara.«
»Ich weiß, wie schwer das ist, Barbara, aber jetzt muss deine Mutter wenigstens nicht mehr leiden.«
»Es ist für alle besser so, Barbara.«
Sie hatte es gehört - zuerst, vor zehn Jahren, nach dem Tode des Vaters, und zwei Jahre später, als ihre Mutter gestorben war.
Im Verlust einer sechsjährigen Tochter konnte jedoch kein Segen liegen.
Jenny hatte nicht gelitten, war in ihrem Leben fast keinen Tag krank gewesen und hatte nicht sterben wollen.
Während der vergangenen Tage hatte Barbara immer wieder versucht, die Vorstellung von dem kleinen Mädchen, das auf der schlüpfrigen Böschung des Kanals ausrutschte und - sich abkämpfend, hilferufend, von niemandem gehört - nicht wieder nach oben kam, aus dem Bewusstsein zu verdrängen.
Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet. Sie klammerten sich um ein Taschentuch, das naß war von ihren Tränen. Sie schob das Bild des ertrinkenden Kindes von sich weg.
Es ändert ja doch nichts, sagte sie sich. Dadurch kommt sie auch nicht zurück.
Sie zwang sich zu einem letzten Blick durch den Schleier, vermochte den Anblick des Sargs aber nicht zu ertragen. Sie nahm die Gesichter der Freunde und Nachbarn wahr - Menschen, die sie seit Jahren kannte - und fragte sich erneut, was sie ihr hinterher wohl sagen würden.
Würden sie - könnten sie - Worte des Trostes finden?
Die Orgel setzte ein. Die Trauernden erhoben sich bei den ersten Klängen von Jennys Lieblingschoral.
»Vom Himmel hoch.«
Barbara konnte Jennys piepsendes Stimmchen neben sich hören, als sie ebenfalls aufstand - letzte Weihnacht in der Kirche hatte sie in dem Kleidchen, das Barbara ihr speziell dafür genäht hatte, wie ein kleiner Engel ausgesehen.
In diesem Kleidchen wurde sie heute begraben.
Barbara versuchte sich auszumalen, wie Jenny in ihrem Engelskleidchen in den Himmel kam.
Sie hob das Taschentuch an die Augen, denn sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Die letzten Klänge des Chorais, die letzten Worte des Gebets, das der Pfarrer sprach, der Jenny nur sechs Jahre zuvor getauft hatte, verhallten. Der Vorhang hob sich. Barbara fühlte Craigs Hand auf ihrem Arm. Er führte sie zu dem Sarg, wo sie das Gesicht ihrer Tochter zum letztenmal sehen würden.
Sie schläft, dachte Barbara, als sie in Jennys sanftes Gesicht schaute.
Es sieht wirklich aus, als ob sie schliefe.
Als Craigs Hand sie fester am Ellbogen fasste, wandte sie sich ab und ließ sich von ihm aus der Kapelle führen.
Vor dem Sarg seiner Schwester blieb Michael stehen. Obwohl sie in der Aufbahrungshalle an jedem Tag gleich ausgesehen hatte, suchte er jetzt in ihrem Gesicht nach einem Zeichen von Leben.
Er beugte sich zuletzt vor, um sie zu berühren, legte seine Hand auf ihre um so viel kleineren, über der Brust zusammengefalteten Hände, die eine Blume hielten.
Er wollte nach einem zärtlichen Druck seine Finger schon zurückziehen, als er eine Regung zu spüren meinte.
Er erstarrte. Er ließ seine Hand ruhen, wo sie lag, um zu warten, ob die Regung sich wiederholte.
Aber nein.
Es war nur Einbildung gewesen.
Trotzdem war es ihm unmöglich, an ihren Tod zu glauben, als er sich vom Sarg abwandte. In seinem tiefsten Inneren hielt sich, für ihn unbegreiflich, ein stilles Wissen, dass Jenny doch noch lebte.
»Mir geht es genauso«, hatte ihm in der vergangenen Nacht sein Vater gestanden, als Michael ihm, nach einiger Überwindung, von diesem merkwürdigen Gefühl berichtet hatte. »Und den anderen auch. Die Endgültigkeit des Todes zu akzeptieren - das fällt uns schwer, vor allem bei einem jungen Menschen wie Jenny. Ich rechne irgendwie immer noch damit, dass sie plötzlich hereinstürzt und mir auf den Schoß springt und einen Kuß auf die Backe schmatzt. Ich wache nachts auf, weil ich meine, sie weinen zu hören. Aber so ist das beim Trauern, Michael. Und so unvorstellbar ihr Tod für uns ist - er bleibt ein Faktum, das wir langsam akzeptieren lernen.«
Nur erlebte Michael es anders: Mit jedem Erwachen morgens war sein Gefühl, dass Jenny lebte, noch stärker.
Er gewann den Eindruck, als riefe sie ihn um Hilfe.
Er lief durch den mittleren Gang und entdeckte Kelly nach einigem Suchen in der Gruppe neben Eltern und Großvater. Sie nickte, als ihre Blicke sich
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