In den Klauen des Tigers
Lorenz
wirkte müde.
„Sag mal, Kathie.“ Gaby hatte die kalte
Abreibung beendet und schlüpfte in T-Shirt und Jeans. „Warst du heute nacht
noch unterwegs?“
„Unterwegs? Wieso?“ Kathie trug ihr
rötliches Haar so kurz wie ein sportlicher Junge. Sie hatte grüne Augen und
viele Sommersprossen im milchigen Teint. Sie war hübsch und eine gute
Delphin-Schwimmerin.
„Hast du’s nicht gemerkt“, Gaby lachte.
„Du lagst vorhin verkehrt herum auf dem Schlafsack. Drauf, wohlgemerkt, nicht
drin! Und der Zelteingang war offen. Und irgendwann heute nacht war mir auch,
als hätten die Hunde kurz angeschlagen. Ich war aber zu müde, um darauf zu
achten. Ich dachte, ich träume.“
Kathie lächelte verlegen. „Ich... nun,
ja, ich war mal kurz weg.“
„Ach so.“
„Nein, nicht was du denkst. Ich mußte
nicht verschwinden, sondern...“ Sie stockte.
„Ja?“
Kathie senkte die Stimme. „Ich kann
nichts dafür, weißt du. Ich bin Schlafwandlerin.“
„Wie? Ach? Gaby machte große Augen. „Du
schlafwandelst? Da müssen wir ja aufpassen auf dich. Daß du dich nicht im Wald
verirrst. Sag mal, wie ist denn das?“
„Schlafwandeln ist angeboren. Meistens
kommt es nur bei Kindern und Jugendlichen vor. Nach der Pubertät ( Reifezeit )
verliert sich diese dumme Gewohnheit. Im allgemeinen, jedenfalls. Daß ich
schlafwandele, merke ich selbst gar nicht. Das ist es ja eben. Meine Eltern
haben mich dabei beobachtet. Sonst wüßte ich nicht, daß ich unter
Somnambulismus — das ist das Fremdwort dafür — leide. Daß ich dabei auf wache,
kommt selten vor. Etwa zwei Stunden nach dem Einschlafen passiert es. Ich
steige aus dem Bett. Mit geöffneten Augen tappe ich durch die Wohnung, völlig
sinnlos, mit tastend ausgestreckten Händen, ohne Ziel. Trotz geöffneter Augen
sehe ich nichts. Ich bin dann — wie alle Schlafwandler — in einer
Tiefschlafphase, also völlig weg. Ich tappe umher, gehe ins Bett zurück, lege
mich lang und schlafe weiter. Am nächsten Morgen weiß ich von nichts.“
„Und wie kann man dich wach machen?“
„Indem man mich aufweckt — aber das muß
ziemlich energisch geschehen —, oder wenn ich mich schmerzhaft stoße.“
„Aha!“
„Wir wohnten früher im sechsten Stock
eines Hochhauses, Gaby. Als meine Eltern merkten, daß ich schlafwandele, sind
wir in eine Parterre-Wohnung umgezogen. Es kommt nämlich vor, daß Schlafwandler
Fenster öffnen und hinaussteigen. Man weiß von tödlichen Unfällen.“
„O weh!“
Kathie lächelte. „Heute nacht bin ich
aufgewacht. Und zwar bei den Singenden Felsen. Ich muß also über die Lichtung
marschiert sein und dann das lange Stück die Forststraße entlang.“
„Nicht zu fassen! So weit?“
Die beiden Mädchen standen jetzt neben ihrem
Zelt und bürsteten sich die Haare. Oskar und Man Eater jagten sich übermütig.
Die Trainerinnen hatten 14 stabile Picknick-Becher auf den kleinen Klapptisch
gestellt und füllten Tee ein. Dichter Wald umgab die Lichtung, auf der die
Zelte standen. Hohes Gras wuchs. Bienen summten. Unter den Bäumen breiteten
sich weiche Moosbänke aus. Es gab Brombeer- und Himbeerranken. Farne standen
hoch. Vorn berührten sich die Lichtung und das Ende der Forststraße. An der
Stelle verbreiterte sie sich zu einem sandigen Platz, wo Fuhrwerke wenden
konnten. In einiger Entfernung türmten sich die Singenden Felsen zu einer
eindrucksvollen Kulisse auf: bis zu 30 Meter hohe Felsbrocken, die eine
fußballfeldgroße Fläche bedeckten. Wenn in stürmischen Herbstnächten der Wind
über Kanten und durch Spalte fuhr, entstanden Geräusche wie ferner Gesang.
Nächtliche Wanderer hatten berichtet, wie schauerlich das klang. Daher hatten
die Felsen ihren Namen.
„Wahrscheinlich“, Kathie lächelte, „ist
das ein Rekord für Schlafwandler. Die Strecke, meine ich.“
Sie legte ihre Bürste weg. Gaby kämmte
noch.
„Und was hat dich geweckt, Kathie?“
„Ich bin gegen einen Baum gelaufen.
Aber mein Kopf war härter. Kann auch sein, daß das Auto mich geweckt hat.“
„Ein Auto?“
„Es hielt bei den Singenden Felsen, so
ein komischer Campingwagen, glaube ich.“
„Sonderbar. Über die Forststraße darf
man doch nur fahren, wenn man eine Sondererlaubnis hat.“
„Vielleicht hatte der Mann die. Es war
jedenfalls ein heller Mercedes mit einem Wohnwagen als Anhänger. Die Scheinwerfer
waren abgeblendet. Aber im Mondlicht sah ich, daß ein Mann sich am Anhänger zu
schaffen machte. Er ist dann eingestiegen und
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