In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
Jenseits bestellen sollte, da es doch offensichtlich nur ein Phantasieprodukt war.
»Ich nehme an, der Wein hat keinen Geschmack«, wandte ich ein.
»Sprich nur für dich selbst«, erwiderte Adam Kadmon und verzog überheblich den Mundwinkel.
»Apythia geht den Weg der geringsten spirituellen Reibung«, setzte Adam Kadmon seine Ausführungen fort. »Sie ordnet uns zu, wo und in wem wir wieder erscheinen. Sie ist ein Orakel. Viel mehr ein Anti-Orakel. Sie weissagt nicht deine Zukunft, sie macht deine Zukunft. Ein grausames Biest, mit unerfreulichem Humor. Eine Kreatur, die älter ist, als die alten Kulturen. Aber sie hat noch nie über die Stränge geschlagen. Sie erwartet eine Frage. Und sie beantwortet jede Frage. Doch von der Art der Frage leitet sie die Art deiner neuen Erscheinung ab.«
»Also kann man es sich nicht aussuchen, wie man wieder ins Diesseits zurückkehrt?« fiel ich ihm ungeduldig ins Wort.
»Sie sorgt dafür, dass wir immer nur in Avataren auftauchen, die dem Tode geweiht sind. Wir betreten ihren Körper, nur kurz bevor sie ihn vor ihrer Zeit verlassen.«
»Avatare...?«
»Wirtskörper. Weißt du, wer Charon ist?«
»Ist das nicht ein Fabelwesen? Pferd mit Menschenkopf. In den Griechischen Sagen.«
Adam Kadmon ließ kurz einen gelangweilten Blick über den zerfurchten dunklen Canyon gleiten und lehnte seinen Ellbogen gegen das Geländer am Rande der Plattform. »Das war Chiron, du Anarch. Ich meine Charon, den Fährenmann.«
Es dämmerte mir. »Man musste ihm eine Münze geben, damit er einen über den Fluss nahm...«
»Styx«, fügte Adam Kadmon an.
»Darum haben doch die Griechen und Römer den Toten Münzen auf die Zunge oder auf die Augen gelegt.«
»Es ist der Preis. Der Preis, den man zahlen muss. Heute wird das missverstanden und etwas zu wörtlich genommen. Aber es ist ein Gesetz des Ausgleichs. Die Spiegelwelt. Die Kräfte müssen in Balance gehalten werden.«
»Ich kapiere noch immer nichts«, meinte ich verwirrt.
»Balance ist die Antwort«, fuhr Lichtmann fort. »Das Diesseits ist hell, das Jenseits dunkel. Wird das Diesseits dunkler, wird das Jenseits heller. Ich glaube, während des Hundertjährigen Kriegs im Mittelalter, als aller paar Jahre der Schwarze Tod durch die Städte zog, war das hier ein recht annehmbarer Ort. Eine echte Partymeile.«
Während Adam Kadmon mit seinen Belehrungen fortfuhr, begann es mir langsam zu dämmern.
»Eine Münze — eine Überfahrt«, erklärte er theatralisch und bedankte sich mit einem knappen Kopfnicken für den servierten Wein. »Wie hoch ist der Preis, den du für deine Rückkehr zahlen willst? Wenn du so wenig wie möglich Energieausgleich zwischen hier und dort auslösen willst, ist es geraten, in jemanden zu treten, dessen Tage ohnehin gezählt sind. Du stiehlst von diesem Menschen nicht sein Leben, sondern seine letzten Atemzüge.«
»Apythia sucht also einen sterbenden Menschen für mich aus?«
»Ja. Menschen kurz vor ihrem Tod. Menschen, die auch ohne deinen Eingriff sterben werden. Nur Sekunden oder Minuten später. Du hast keine andere Wahl, als es anzunehmen. Außer du möchtest hierbleiben.«
»Wache ich da in Krankenhäusern auf, mit einem Körper voller Metastasen?«
»Nein. Denn ich sagte vor ihrer Zeit . Krankheiten sind kein unnatürlicher Tod. Krankheiten kommen nicht vor ihrer Zeit . Niemals. Das kommt den Menschen nur so vor, weil sie für ihre Erkrankungen immer die Außenwelt verantwortlich machen möchten. Du kannst bei der Aschewerdung nur an Linien anknüpfen, die im Begriff sind, unterbrochen zu werden. Gewaltsame Brüche des Schicksals. Futurologen würden hier von Wildcards sprechen. Das Kerygma nennt sie fatumale Anomalien . Für uns sind sie Chancen, den Tod zu überwinden.«
Langsam begriff ich. Es begann Sinn zu ergeben.
»Also reinkarniert ihr in Menschen, die — ohne es selbst zu wissen — nur wenige Augenblicke vom eigenen plötzlichen Tod entfernt sind?«
»Gut aufgepasst«, lobte mich Adam Kadmon. »Das ist nicht unsere Idee und offensichtlich auch nicht die der Schatten. Es ist ein spiritueller Mechanismus, den es schon immer gab und der schon immer gelegentlich Verwendung fand. Im Englischen wird er oft als Walk-In bezeichnet. Es heißt, ein höheres Wesen kann die orientierungslose Seele eines unerwartet Sterbenden retten, indem es sie dem Körper entzieht und ins Jenseits schickt, während das Wesen selbst den Leib des Betroffenen annimmt. Der Trick bei uns ist, dass wir keine
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