In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
gehabt im Diesseits? Pflegte ich zu jammern und über die Gesellschaft zu klagen, während es mir in Wirklichkeit besser ging, als den meisten Menschen?
Bald schon begann ich die Bewegungen um mich herum zu erkennen. Wer zum ersten Mal bewusst in die Spiegel geht und mit Hilfe der Aschewerdung das Thanatopolis durchschreitet, hat in dieser Stadt an dieser Stelle sein großes Aha-Erlebnis. Es waren Gestalten, wie in einem Traum, die an mir vorbeigingen oder geradezu vorbeischwebten. Dabei kam es mir vor, als wären alle unsichtbar und ich hätte nur eine sanfte Ahnung von ihrer Anwesenheit. Sie waren hier und sie waren es doch nicht. Aber vermutlich sahen sie mich genauso schlecht.
Es war ein seltsamer Streich, den mir meine Jenseits-Augen da spielten. In dieser Stadt machte Eigenbewegung blind. Sah ich mich hastig um, so nahm ich nur leicht schimmernde Dunkelheit wahr. Doch verharrte ich eine Weile und begann auf eine Stelle zu starren, wurden die Konturen heller. Und das galt für alles um mich herum. Sah ich die Dinge nur beiläufig an, verschwanden sie. Verharrte ich bewegungslos, bekamen sie Konturen und Gesichter.
Eigentlich war hier nichts so richtig dunkel. Ein finsterer Ort, der unentwegt kaltes Licht abgab. Die Mauern, der Boden. Es war kein Leuchten oder Strahlen. Es war beinahe nicht sichtbar und auch zu schwach, um Dinge wirklich zu beleuchten. Aber es war fluoreszierend genug, um in jeder noch so dunklen Ecke dieser Bauwerke die Konturen und Wände erkennbar zu machen.
Akhanta behielt recht. Die Sacraporta hatte mich nur einige Schritte von meinem Ziel entfernt ausgespuckt. Am Ende der Straße sah ich den weißen Tempel in einem offenen, kleinen Hof. Auf seinem Dach, in einer aggressiven Bewegung erstarrt, mit angespannten Muskeln und ineinander verkeilten Hörnern, stießen gerade ein Stier und ein Widder ihre Schädel gegeneinander. Möglichst im Schatten der Häuser gehend, schlich ich mich auf kürzestem Weg dorthin, vorbei an unzähligen schwarzen Fenstern.
Vor einem der Häuser blieb ich stehen. Es war dunkel wie alle anderen, doch ich presste neugierig mein Gesicht gegen das Fensterglas im Erdgeschoß und hielt mir die Hände an die Schläfen. Nun begann ich im Haus Konturen zu erkennen. Licht und Form traten hervor und verrieten ihr Geheimnis. Ich sah Kinder, die am Tisch saßen, und eine Mutter, die das Essen auf ihre Teller austeilte.
Während die Kinder begannen, mit ihren Holzlöffeln in die Teller zu fahren, versammelte sich die Familie im Zimmer und sah ihnen stumm beim Essen zu. Dann traten die Mutter und die Großmutter jeweils hinter ein Kind. Ich sah in ihren Händen lange Messer aufblitzen und schon begannen sie mit einem gekonnten Griff die Kehlen der Kinder durchzuschneiden. Ich zuckte verstört vom Fenster weg. Streng nach Adam Kadmon hätte ich es nicht sehen können, wenn es keinen Bezug zu mir selbst gab.
Doch ich kam nicht dazu, darüber nachzudenken.
»Sie sind endlich hier«, erklang es neben mir.
Ich fuhr herum, wobei ich beinahe in den Schlamm gestürzt wäre. Ich kniff meine Augen zusammen.
Es dauerte etwas, bis ich ihn erkannte. Vor mir stand ein Mann mit einem breiten schwarzen Arztkoffer. Um den Eindruck seines Berufes zu verstärken, hielt er in der Hand ein Stethoskop. Nach dem ich diese Spiegelung angenommen hatte, blieb sie gut sichtbar, als stünde der Mann im Diesseits vor mir.
»Ich verstehe nicht...«, murmelte ich verwirrt.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte der Arzt resolut, doch mit einem mitfühlenden Blick. »Leider haben wir kaum noch Zeit.«
Ich folgte ihm in eine der zahlreichen Seitengassen. Etwas misstrauisch trat ich durch eine Tür und blieb stehen. Während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten und die schlichten, schäbigen Möbel im Zimmer immer sichtbarer wurden, überschlugen sich meine Gedanken, und ich erstarrte wie einer der Felsen hinter der Großen Ebene.
»Setzen Sie sich ruhig zu ihm«, sagte der Arzt leise. »Ich muss jetzt weiter. Ich habe noch fünf Patienten, die sich ebenfalls kein Krankenbett leisten können.«
Als ich mich umsah, war er bereits verschwunden.
Ich stand eine Weile da und wagte es nicht, mich zu rühren. Erst langsam trat ich näher. Am Fuß des Bettes griff ich taumelnd nach dem Metallgestell, um Halt zu finden. Als ich zögerlich auf den Bettrand rutschte, machte er die Augen auf und sah mich. Nun wusste ich es ganz genau.
»Roman«, hauchte ich leise aus. »Was machst du hier?«
Er sah so
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