In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
Wirklichkeit.
Doch ich wünschte nun, ich hätte den Kontakt zu meinem Bruder bewahrt. Er war der jüngere von uns beiden, und ich hätte dafür sorgen müssen, dass wir uns nicht aus den Augen verlieren. Ich hätte mehr für ihn da sein müssen, mehr für ihn tun müssen.
»Wenn in der Dunklen Stadt, schütze deine Gedanken«, hatte Akhanta gesagt.
Etwas riss an mir, und der Schlamm löste sich von meinen Füßen und entfernte sich nach unten.
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was geschehen war. Etwas hielt mich am Oberkörper fest. Ich sah unter mir den zerfurchten, matschigen Boden der Straße vorbeistreifen und bemühte meinen Kopf zur Seite. Nun erkannte ich über mir die breiten Schwingen, die dumpf und gemächlich in einer luftleeren Welt schlugen.
Der Engel nahm direkten Kurs auf die Mitte der Stadt. Wir flogen an seinen Kollegen vorbei. Wie metaphysische Albatrosse schwebten sie regungslos um die blass aus der Schwärze der Ewigkeit schimmernde Festung, als gäbe es für sie keine Zeit. Es gab für sie möglicherweise keine Zeit. Nicht so, wie wir Menschen die Zeit verstanden.
Ich schwebte durch Straßen hindurch, während sich die dürren Hände des Engels kräftig in meine Oberarme drückten. Ich spürte den Druck, doch es war nicht das schmerzhafte Gefühl, das ich dabei im Diesseits wahrgenommen hätte. Es kam mir beinahe so vor, als entsprang das Spüren seiner Hände meiner eigenen Vorstellung. Im Moment war ich aber zu sehr abgelenkt, um diese Sache genügend durchzudenken. Auf einer Anhöhe, oberhalb der schwarzen Dächer, befand sich ein Monopteros. Er bestand nur aus einem Fundament aus Stein und aus zwölf symmetrisch aufgestellten Säulen. Der Grundriss war kreisförmig und auf den Säulen befand sich kein Dach und keine Kuppel, sondern lediglich ein Ring aus Stein, der alle Säulenspitzen miteinander verband.
Der Engel flog zwischen zwei Säulen hindurch und stellte mich ab. Ich taumelte einige Schritte und drehte mich sofort um, um meinen Entführer anzusehen. Auch er war gelandet. Seine Flügel waren viel größer, als ich es in den meisten irdischen Darstellungen gesehen hatte, und auch seine Statur war beachtlich. Da war keine Spur von Pummel oder Zierlichkeit. Er war sicher einen halben Meter größer als ich und seine Gestalt war ausgesprochen drahtig. Seltsame blaue Augen starrten mich kalt an. In seinem Gesicht regte sich — nichts.
Nach einer Weile war ich es, der das Schweigen brach.
»Ich habe gelesen, dass der bloße Anblick mich töten könnte...«
Der Engel öffnete erst langsam seinen Mund und sprach nur ein Wort mit einer Stimme, die von Überlegenheit und Kontrolle zeugte.
»Rilke.«
Es gab wenig, was ich darauf erwidern konnte. Ich nahm an, dass er sprach, wenn er etwas zu sagen hatte. Also schwieg ich und wartete. Ich schielte dabei zwischen den Säulen hindurch, darüber nachdenkend, wie hoch die Erfolgschancen einer Flucht wären. Doch hier, auf dieser Anhöhe schien der Gedanke eher lächerlich.
»Ich heiße Manakel«, erklärte er und trat an eine der Säulen. »Ich befreie die Seelen von hinderlichen Gedanken und sichere ihnen eine ungehinderte Passage.«
Ich nahm an, dass das eine hochtrabende Beschreibung für einen auralen Hiwi war, der verwirrte und verlaufene Seelen auf der Megalopedia zusammentrieb. Adam Kadmon hatte sie schmeichelhaft die Aasfresser genannt.
Wir blickten auf die Dunkle Stadt unter uns. Wir standen an einem der höchsten Punkte von Thanatopolis. Nur drei oder vier weitere »Tempel« überragten die restlichen Häuser. Und natürlich der mächtige Turm in der Mitte, dessen Spitze von unserer Warte aus genauso entfernt wirkte, als befänden wir uns unten in den Straßen der Stadt.
»Ich sollte nun in deiner Welt sein und Frieden und Glückseligkeit spenden...« Er sah kurz zu mir und musterte dann weiter ausdruckslos die Dächer der Stadt. »Doch statt dessen...«
»Weshalb sind Sie... Bist du... nicht in meiner Welt?« fragte ich vorsichtig.
Er wandte sich zu mir. Da war etwas in seinen Augen, das wie Überraschung wirkte.
»Du...«, begann er langsam. »...hast keine Ahnung, was hier vor sich geht.«
Ich senkte meinen Blick und überlegte, ob meine Frage nicht ein taktischer Fehler gewesen war.
»Weshalb bist du dann hier?« rief er aus.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich erschöpft. »Es ist aber eine Frage, die offensichtlich viele beschäftigt.«
Es war der ultimative Franz-Kafka-Trip. Niemand war darum verlegen,
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