In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
war es fünfzehn Zentimeter lang. Es war bedruckt mit einem Text, der mir sinnlos erschien. Eine Ansammlung von Buchstaben. Offensichtlich chiffriert. Ich nahm an, dass es eine Nachricht war. Es hatte diesen äußeren Charakter einer Botschaft oder eines Telegramms. Der Hausmeister mochte das Stück Papier bei einem seiner lüsternen Besuche im Keller verloren haben, und die Mädchen hatten es vermutlich tagelang bei sich versteckt. Auf eine äußerst delikate Art und Weise.
Langsam begann ich zu glauben, dass ich in einem Christopher-G.-Moore-Roman gefangen war.
»Ich werde es mir näher ansehen«, sagte ich statt dessen mit einem etwas schüchternen Tonfall.
Sie nickte mir zu, als hätte sie mich verstanden.
Wir fuhren zum Hauptbahnhof. Die tägliche Verkehrspsychose war bereits in vollem Gang. Es war inzwischen nicht leicht, dort einen Parkplatz zu finden. Vor allem nicht mit einem Minibus.
Wieder blieb mein Blick auf der Polizeistation haften. Die beste Idee, die ich heute haben konnte, war, einfach gegen den Willen der Mädchen einen Beamten, oder noch besser eine Polizeibeamtin herzuholen.
»You must wait here!« sagte ich den Thais mit Nachdruck und kletterte aus dem Wagen.
Ich überquerte die Straße und betrat eine der Telefonzellen. Während ich den Hörer abnahm, streifte mein Blick von dem schwarzen Van zu meiner Linken zur Polizeistation zu meiner rechten. Ich hatte keinen Pfennig Geld dabei und auch keine Telefonkarte. Doch der Apparat nahm Notrufe kostenlos entgegen.
»Notrufzentrale«, erklang es in meinem Ohr.
Ich sah die Köpfe der jungen Frauen in dem Minibus. Sie schienen sich zu unterhalten. Ich legte wieder auf.
Die Polizei konnte ich immer noch anrufen, tröstete ich mich, um mich nicht wie ein kompletter Narr zu fühlen. Doch ich hatte noch nicht einmal den Schlüssel versucht. Ich wollte zuerst mehr von dem verstehen, was hier vorging. Die Ereignisse der letzten Nacht verwirrten mich. Und Manzio? Wieso war dieser bekiffte Nihilist plötzlich so cool und draufgängerisch? Hatte er die Schießerei überlebt? Nichts ergab Sinn.
Ich drehte mich herum und versuchte mich zu erinnern, wo die Schließfächer standen. Ich fand sie schnell. Als ich den recht dunklen Seitengang mit den unzähligen Metalltüren betrat, sah ich mich um. Ich war alleine. Da stand ich mit einem Schlüssel in der Hand, um ein unbekanntes Schließfach zu öffnen. Ich sah am Ende des Gangs die Menschen im grellen Tageslicht und musste plötzlich lachen.
Wieso fand ich das alles nicht schrecklich? Wieso saß ich nicht schon längst bei einem Verhör bei der Polizei? Wieso...?
Der Gedanke war zu kühn...
Wieso gefiel mir das hier?
»Hey, ich mag das!« rief ich leicht hysterisch aus, als wäre ich von heimlichen Beobachtern und Zuhörern umgeben. Niemand beachtete mich.
Aber war es verwunderlich? Die Situation mochte ernst sein, vielleicht sogar gefährlich — doch diese ganze Geschichte mit Schlüs seln und Schließfächern war wie eine Blaupause für den ultimativen Knabenroman. Ich hatte gesehen, was Mahr mit den jungen Frauen anstellte. Und ich wollte verstehen, wie das alles zusammenhing. Die Polizei würde es mir nicht sagen, denn sie würden mich wie einen Dummkopf behandeln, wie einen Bürger, den man nicht mit zu viel Wahrheit behelligen sollte. So ist das schon immer gewesen — seit Lucius Aelius Seianus bis heute. Da unten, in den Kellern, in Mahrs Reich, hatte ich mich wie ein Feigling gefühlt. Ich wollte mir selbst noch eine Chance geben. Und dafür musste ich noch ein kleines Stück länger spielen.
Wenigstens hinter die Tür des Schließfachs blicken.
Dann sehen wir weiter.
1.09 Schließfach 2012
Ich riss meinen Kopf hoch und blickte mich um. Ich hatte geschlafen. Im Zug herrschte Ruhe. Das Licht war gedämpft. Die meisten Passagiere schlummerten vor sich hin. Eine Stimme aus dem Lautsprecher verkündete die Nähe von Hannover. Ich umklammerte noch immer den kleinen Rucksack mit den fünf Büchern...
Die Bücher...
Das Schließfach...
Der Schlüssel.
Er trug die Nummer 2012. Ich beobachtete die kleine Metalltür vor mir, eine von Hunderten Schließfachtüren in einem dunklen Seitenkorridor des Münchner Hauptbahnhofs, unweit des nördlichen Seiteneingangs. Ich blickte nach links, zur hell beleuchteten Haupthalle. Dort strömten weiterhin rastlose Menschen. Zwei Männer von der Bahnwache schlenderten gemächlich vorbei. Sie trugen blaue Uniformen und rote Barette. An ihren Gürteln
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