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In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)

In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)

Titel: In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ales Pickar
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baumelte jener protzige Schlagstock, den ich einige Stunden zuvor in Manzios Hand in Aktion sah.
    Ich ließ sie vorübergehen und versuchte, nicht konspirativ auszusehen. Dann schob ich den Schlüssel ins Schloss und spürte, wie mein Puls beschleunigt. Würde ich nun Antworten bekommen?
    Ich ging in die Hocke und öffnete die massive Metalltür. Ich blickte auf ein kleines Paket aus festem Papier, umwickelt von solider haariger Schnur. Davor lag ein großer brauner Briefumschlag auf einem zusammengefalteten schwarzen Hemd. Ganz hinten befand sich eine zusammengefaltete Kuriertasche. Ich packte den gesamten Inhalt des Schließfachs hinein. Immer deutlicher spürte ich den kalten Atem des Bahnhofs. Die anderen Reisenden waren alle in warme Pullover eingekleidet und trugen herbstliche Jacken. Mein Outfit war gerade gut für eine Lungenentzündung. Ich klappte das leere Schließfach zu und ging zurück in die Eingangshalle.
    Auf dem WC des Burger Kings zog ich mich um. Das Hemd passte mir gut. Aber vor allem war es trocken und sauber. Das alte T-Shirt warf ich in den Mülleimer.
    Als ich mich auf dem WC im Spiegel sah, mit frischen Wassertropfen die mir das Gesicht entlang liefen, reiste ich zurück in der Zeit. Vor fünfzehn Jahren kletterte ich in einen Kanal, um den Tod kennenzulernen. Mein Geheimnis, das ich letzte Nacht Manzio verriet. Und kaum hatte ich es getan, verwandelte sich Manzio und alles wurde anders. Was stimmte nicht mit mir? Was geschah mit mir?
    Ich musste nachdenken. Allein. Ich wollte nicht zurück zu den Mädchen gehen. Sie beeinflussten meine Gedanken. Das hatte ich in der Telefonzelle gemerkt.
    Der Burger King am Hauptbahnhof besitzt eine Galerie, fünf Meter über dem Boden der Eingangshalle vorgelagert. Hier kann man sitzen und die Menschen beim geschäftigen und meist eiligen Schwirren beobachten. Ruhig spazieren hier nur die Polizei und die Bahnwache und der eine oder andere Tourist, der es nicht eilig hat und auf seinen Zug wartet. Der Münchner Hauptbahnhof ist ein genauso unterkühlter und ausdrucksloser Ort, dominiert von Stahlträgern und verchromten Geländern. Die weiten, matten Fenster verleihen ihm die Note einer großen Fabrik. Doch auch er atmet das Heimweh ein und das Fernweh aus. Wie alle anderen großen Bahnhöfe erschafft er die besondere Zeitqualität des Aufbruchs und der Ankunft. Ob jugendliche Soldaten, hektische Japaner oder abenteuerlich wirkende Rucksacktouristen, Mütter und Töchter, Geschäftsmänner und Liebespaare, stets herrschen hier Bewegung und Rastlosigkeit. Traurig und heiter zugleich. Auf dem Bahnhof ist plötzlich jeder interessant, denn hier hat jeder eine Herkunft und ein Ziel. Eine Bestimmung, die sich mir nicht offenbart. Auf einem Bahnhof hat jeder sein Geheimnis.
    Ich wusste nicht, was als nächstes passiert. Und aus meinem Inneren kroch langsam ein blasser Bandwurm hoch in mein Gehirn, um mir die schrecklichste aller Wahrheiten mitzuteilen: das Leben besteht darin, nichts zu wissen über die kommenden Dinge. Ich mochte in zehn Minuten tot sein. Erschossen, oder erdrosselt in einer dunklen Ecke des Bahnhofs. Vielleicht erst in zwei Tagen oder in einem Monat oder in einem Jahr. Gewissheit ist das Lieblingswort der Narren. Sicherheit ein Fachbegriff der Lügner. Und Geborgenheit ein einsamer Wunschtraum.
    Heute wird mir klar, wie gesegnet ich war. Wie ziellos und uninspiriert sich mein Leben bis dahin anfühlte. Wie sehr ich eine triste Straße entlangging, die nirgendwo hinführte, außer zu noch mehr Trostlosigkeit, zu mehr Kiffen, zu mehr Nihilismus, mehr Hass auf den Arbeitgeber, mehr Hass auf die Banken, den Staat, die Eltern... das Leben. Und tief in meinem Inneren regte sich etwas, das zu lange geschwiegen hatte und das nun seine Befreiung feiern wollte. Deshalb war ich nicht am Boden zerstört über den Verlust meines bisherigen Lebens. Über den Verlust meines Eigentums. Über den Verlust einer minutiös geführten Sammlung buntbedruckten Papiers.
    Dieser Gedanke verstärkte die perverse, seltsame Euphorie, die mich bereits vor den Schließfächern befallen hatte. War das Schock? Und konnte es ein Schock sein, wenn man imstande war, es als Schock zu benennen?
    Unten strömten Menschen in typischer Eile. Auch ich hatte es eilig, doch es war eine andere Art von Dringlichkeit. Eine Hast, die ich bis dahin noch nie gefühlt hatte. Ich hatte alles verloren, ja, doch zeitgleich tat sich ein Tor auf und ich erkannte einen neuen Weltraum, der sich mir

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