In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
irgendeine undurchsichtige Art mit Verschwörung, Entführung und Frauenhandel zu tun hatte. Gar nicht davon zu sprechen, dass ich gerade mein Eigentum, meine Wohnung verlor... Ich besaß keine Papiere. Zumindest keine echten, sondern mimetisch morphende. Und wann immer ich eine Entscheidung fällte, mit dieser Situation umzugehen, schien mich etwas dazu zu verleiten, das Falsche zu beschließen. Das Falsche aus der Sicht des Gemeinwesens. Doch gab es auch eine andere Sicht? Vielleicht war es das, was ich herausfinden wollte.
Niedergeschlagen blickte ich aus dem Fenster des Zugs und wie auf Abruf begann es draußen zu regnen. Als würde der Regen jenen Tränen Rechnung tragen, die zu vergießen ich anscheinend unfähig war. Das miese Wetter sorgte für ein bedrücktes, gedämpftes Licht, als ob es schon mittags dämmern würde. Ich sah in der Fensterscheibe meine Gesichtszüge. Dieser falsche Spiegel mochte lügen, aber ich wusste die dunklen Ringe unter den Augen und die blassen Wangen waren keine Einbildung. Auch die vier Damen wurden durch das Unwetter leiser und blickten stumm und müde hinaus auf die verregneten, tristen Felder. Bald senkten sich ihre Augenlider und sie schliefen ein.
Es war erstaunlich, wie sie es überall und zu jedem Anlass fertigbrachten, ein Nickerchen zu halten. Doch dann verstand ich, dass ich verglichen mit ihnen ein Niemand war — eine Null. Sie hatten bereits Pforten der Hölle hinter sich, die sich meiner Vorstellung entzogen. Sie kannten in jeder Situation weniger Furcht als ich, der noch bis vor kurzem geglaubt hatte, etwas zu verlieren zu haben und gegen Unglück versichert zu sein. Sie waren mir überlegen, und deshalb konnten sie seelenruhig neue Kräfte schöpfen.
Ich erinnerte mich an den hektischen Schusswechsel, der hinter uns erklungen war, als wir in dem Minibus das Haus der Kraniche verlassen hatten. Und ich fragte mich, was ein bürgerlicher Psychopath wie Rufus Mahr mit Tausenden Comics anstellt? Ich fühlte mich wie in einem Traum. Ich sah die Welt durch einen Schleier.
Die Zeit lief zu langsam ab. Es gab nur noch diese kleine schwarze Kuriertasche auf meinem Schoß, an der ich mich nun festhielt, während die verregnete Landschaft einer sehr faden Stadt langsam an meinem Fenster vorbeiglitt.
Hamburg... Was erwartet mich dort? Mein Geist wurde nicht klarer durch das Wiederholen derselben Fragen. Noch etwas schlafen. Ich umklammerte den Rand meiner Tasche und schloss die Augen. Antworten... Ich driftete davon.
Ich wachte erneut auf, ohne Zeitgefühl und unsicher darüber, wie lange ich geschlafen hatte. Die rote Leuchtanzeige an der Frontwand des Waggons meldete die Nähe von Hannover. In den Abendstunden werde ich in Hamburg aussteigen und alle meine bisherigen Fäden zu anderen Puppen auf anderen Bühnen werden gerissen sein. Doch ich werde neue Menschen streifen und neue Begegnungen erleben und das Leben wird weiterhin eine endlose Verwicklung sein.
Der Himmel klarte für eine Stunde auf und gab den Blick frei auf einen sich langsam rot verfärbenden Horizont. Die herbstliche Sonne näherte sich sicheren Schrittes dem Tellerrand dieser Welt. Einsame Sonnenstrahlen glitten über die Felder, durchbrachen die massive Kunstglasscheibe, um mich zu treffen. Photonen, die vor über sieben Minuten die Oberfläche der Sonne verlassen hatten, betraten mein Auge. Als wären sie exklusiv bestellt im großen Warenhaus der Raumzeit.
Vielleicht sind wir willenlose Geschöpfe, die einen Großteil ihres Lebens der Illusion der Freiheit opfern oder die Unfreiheit betrauern. Aber wir alle wissen, wie sich ein Augenblick anfühlt, der nur für uns bestimmt ist. Das kleine Detail, das für alle unsichtbar bleibt und sich nur dem einzelnen offenbart. Ich kann vermutlich nicht vermeiden, wie Treibgut von der Flut des Lebens an den Strand gespült zu werden. Doch die Bedeutung des Augenblicks, in dem es passiert, kann in mir niemand verfremden oder wegrationalisieren.
Ich schließe die Augen und halte mein Gesicht ins Licht, erfreut über die Regenpause. Die vier Damen sind wieder wach und räkeln und strecken sich ungeduldig auf ihren Sitzen. Sie entdecken einen Regenbogen und sehen ihn sich mit einem besinnlichen Ausdruck in ihren Gesichtern an.
Die Anführerin der Gruppe blickt kurz zu mir.
»Thank you«, sagt sie und sieht wieder aus dem Fenster.
»Wir sind bald da«, erkläre ich, wissend, dass ich nicht verstanden werde. Aber wer wird das schon?
Manzio verdiente den Dank,
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