In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
Gelegenheit, über seine Worte nachzudenken, denn sogleich betreten wir das Reich des Schreckens. Ein Reich, das ständig seinen Platz verändert und das vielleicht niemals besiegt werden kann. Und wo immer es in Erscheinung tritt, bin ich auch zur Stelle. Doch stets komme ich zu spät. Als wäre es meine Bestimmung, gegen das Böse zu verlieren.
Schweigend beobachte ich die Frau und versuche mich an das Bild zu gewöhnen, um in einigen Augenblicken sachlich und ruhig meiner Arbeit nachgehen zu können. Wir starren sie an, als wäre sie eine furchterregende Statue in einer ägyptischen Krypta. Ein heller Torso inmitten der Finsternis. Es besteht kein Zweifel, dass sie noch nicht lange tot ist. Sie ist blass, doch das Blut ist noch nicht vollständig verkrustet. Insgeheim bin ich froh, dass sie tot ist. Allein die Vorstellung, eine lebendige Frau vorzufinden, der alle Gliedmaßen entfernt wurden, lähmt mich.
Sie liegt auf einem großen, schweren Tisch mit einer Marmorplatte. Es ist schwer zu sagen, ob dieser Tisch mehr eine pathologische oder eine zeremonielle Bestimmung hat. Der flache Kanal zum Abführen des Blutes, der in den Rand der Tischplatte eingelassen ist, mag für beides zweckmäßig sein.
Ich mustere kurz das rechteckige Taschentuch, das über ihren Schoß gelegt worden war.
»Waren das Ihre Männer?«
Der Narbige nickt unmerklich.
»Niemand fasst hier etwas an!« erwidere ich verärgert und reiße mit den Fingerspitzen das Taschentuch weg.
»Mehr Licht hier!« befiehlt der Narbige und nimmt seinen Zylinder ab. Er klemmt sich ein Monokel unter die rechte Augenbraue und bewegt seinen Kopf entlang des geschundenen Körpers. Die Laternen leuchten sein Gesicht seitlich an und lassen die Narbe dunkler und tiefer erscheinen. Dann richtet er sich auf und wendet sich an mich. »Ich dachte, ich hätte schon einiges gesehen... Nun, das ist Ihr Parkett, mein Bester.«
Er tritt zur Seite und lässt mir den Vortritt. Ich betrachte die Frau und denke darüber nach, ob sie hübsch war. Doch jeder Blick in ihr Gesicht scheitert an den aufgerissenen, starren Augen. Langsam schiebe ich eine Hand unter den Rücken der Leiche und hebe den Torso ein wenig auf die Seite. Er ist erstaunlich leicht.
Ich bücke mich und sehe mir den Rücken der Frau an.
»Mehr Licht«, ruft wieder der Narbige und hält seine eigene Laterne über meine Schulter.
Ich lege den Körper wieder auf den massiven Marmortisch zurück. Mit meinem Zeigefinger drücke ich in ihren Bauch und bewege das Kinn ein wenig zur Seite. Dann verschließe ich ihre Augen und prüfe die Augenlider.
»Die Totenstarre ist bereits eingetreten. Ohne die Gliedmaßen ist es für mich schwer einen zuverlässigen Todeszeitpunkt zu benennen. Aber dem ausgetretenen Blut um ihren Mund nach zu urteilen, vielleicht vor drei oder vier Stunden. Die Gliedmaßen wurden viel früher entfernt. Vielleicht vor Tagen oder Wochen.« Ich sehe den Mann mit der Narbe an und schüttle kurz den Kopf. »Aber deswegen haben Sie mich nicht hergeholt.«
»Sie haben übrigens ganz schöne Befugnisse für jemanden, der kein offizieller Ermittler ist«, äußert sich der Narbige mit ausdruckslosem Gesicht. Dann greift er unter sein Hemd und reicht mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Es lag neben ihrem Kopf.«
Einer seiner Polizisten schnaubt abfällig und beginnt den restlichen Raum zu untersuchen.
Ich falte das Blatt auseinander und lese die Zeilen.
»DU EINZIGER, IN DEM MEIN GANZES SEIN
VOLLKOMMENHEIT UND STOLZ UND RUHE FINDET!
ERFREUT SEH‘ ICH DEIN ANTLITZ UND DEN MORGEN;
DENN DIESE NACHT, WIE KEIN‘ ICH NOCH BESTAND,
DA TRÄUMT‘ ICH, WENN ICH TRÄUMTE, NICHT WIE SONST
VON DIR, UND VON DES VORIGEN TAGES MÜH‘N,
VON PLÄNEN FÜR DEN NÄCHSTEN MORGEN, NEIN
ICH TRÄUMTE VON VERBRECHEN RUHELOS,
DIE VORHER NIE MEIN BUSEN NOCH GEKANNT;
MIR WAR, ALS RIEFE DICHT AN MEINEM OHR
MIR JEMAND FORTZUGEHN MIT SANFTER STIMME...«
»Es ist an mich adressiert«, erkläre ich knapp.
»Er schreibt Ihnen Briefe?« fragt der Narbige misstrauisch und blickt mich an, als würde er es bereuen, mich mitgenommen zu haben. »Zünftig...«
»Er hat eine Schwäche für ungewöhnliche Formen der Verständigung«, fahre ich fort, wissend, dass diese Unterhaltung eigentlich eine Zeitverschwendung ist. »Er will, dass ich ihn verstehe.«
Der Narbige verzieht das Gesicht, als versuche er ohne Hände eine Fliege von seiner Wange zu verscheuchen. »Und was schreibt er Ihnen...? Für mich
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