In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
Sieg.«
»Was dann?«
»Musashi Miyamoto sagt: Eile ist auch Leichtsinn. Lasse zu, dass der Gegner überstürzt ist. Doch nur um es selbst nicht zu sein. Und davor sagt er, dass es der bessere Rhythmus ist, der den Sieg bringt, nicht die übertriebene Stärke und die übertriebene Geschwindigkeit. «
Es war eine unwirkliche Situation. Sie sprach über einen japanischen Schwertmeister, statt nun endlich mit mir die Polizei anzurufen. Ich war froh, dass mir die Ausreden erspart blieben. Ich lebte nicht in dieser Welt. Ich war woanders. Fern des Gemeinwesens. Fern der Regeln. Fern der Sicherheit und der Geborgenheit. Fern der Ansprüche. Fern der Schuldzuweisungen. Es gab nur noch Rätsel.
Warum aber kam sie nicht auf die Polizei? Ich wusste, dass kampfsporterfahrene Menschen oft einen schweren Stand vor Gerichten haben, sogar wenn sie im Recht zu sind. Auf dem Kiez rief man wohl nicht zu jeder blutigen Nase die Polizei.
Sie stellte plötzlich das Glas hin. Für einen mikroskopisch kleinen, von meinem abgrundschlechten Charakter beseelten Augenblick, dachte ich, dass nun etwas Aufregendes passieren würde.
»Ich muss dich jetzt rausschmeißen, Marek«, sagte Tina und lächelte noch eine Spur freundlicher. »Ich bin müde und möchte endlich pennen gehen.«
Sie war sehr höflich und hilfsbereit, wie die Verkäuferin in einem Dessousladen. Aber als Kunde landet man noch lange nicht mit der Verkäuferin im Bett, nur weil man ständig von ihr angelächelt wird. Eigentlich ein wenig ungerecht.
»Wenn Ärger im Anmarsch ist, klopf an die Wand«, gab sie mir auf den Weg, und ich wusste nicht, ob das ironisch gemeint war.
Bevor ich mich richtig versah, stand ich draußen im Treppenhaus. Was hatte ich erwartet? Dass sie sich mit mir die ganze Nacht besäuft und sich dann von mir lecken lässt? Guess again!
Ich ließ mich rückwärts auf mein Bett fallen und starrte auf die Decke. Ich sollte nun meine Sachen packen und fliehen. Jetzt, in eben diesem Augenblick. Mit nur einer leichten Tasche und dem restlichen Geld. Die Wohnung war vermutlich nicht mehr sicher. Jemand kannte mehr von meinem Geheimnis als ich selbst. Ich dachte an Evelyn und Tina — meine einzigen richtigen Freunde hier in Hamburg. Ich hatte kein Recht, sie noch tiefer in meine Probleme hineinzuziehen.
Die beiden Schläger konnten jeden Augenblick die Tür aufstoßen und das zu Ende bringen, was Tina unterbrochen hatte. Vielleicht hatte sie einen tiefen Schlaf und würde ein zweites Mal nicht zur Stelle sein. Vielleicht kamen sie diesmal mit Uzis und schossen auf alles, das sich bewegte.
Ich stand auf und schleppte mich zur Wohnungstür. Mein Gehirn war hellwach und vollkommen aufgedreht, doch mein Körper war erschöpft und versuchte mir trotzig den Dienst zu versagen. Ich schob das Sofa fünf Meter durch den Raum und parkte es direkt vor der Tür. Dann legte ich einen Teller auf den Sofarand, der sofort umfiel und zu Boden stürzte, falls jemand das Sofa bewegte.
Ich holte die Bücher, die ich am Münchner Bahnhof aus dem Schließfach genommen hatte. Sie waren in der Küche unter der Spüle versteckt. Ich nahm die schwere Pistole heraus und wog sie in meiner Hand.
Mein Ego war nach der martialischen Begegnung mit Tina recht angeknackst, was nicht immer das schlechteste ist. Doch ich wusste, dass diese befremdlichen Verschwörer aus München mir im Nacken saßen, und ich konnte wenigstens versuchen, die Chancen etwas auszugleichen.
Das kleine Problem, dass ich bisher nur einmal, in dem abgestellten Zug in Pasing, eine Pistole in der Hand gehalten hatte, und damals keine besonders rumreiche Figur abgab, war ein hässlicher, kleiner Makel in meinem Konzept. Doch daran konnte ich wenig ändern. Ich nahm die Waffe aus dem Buch heraus, lernte es, sie zu entsichern, die Magazine zu wechseln und die berühmte einsame Patrone aus der Kammer zu entnehmen. Viel mehr konnte ich nicht tun, da Schießübungen in meiner Wohnung vermutlich das halbe BKA auf den Plan gerufen hätten.
Ich saß auf dem Bett, musterte die Waffe und überlegte die nächsten Schritte. Meine Augen brannten vor Müdigkeit. Ich wusste, dass die Zeit der Muße irgendwie vorbei war. Ärger bahnte sich an. Dinge verdichteten sich. Ich beschloss Evelyn in mein kleines Geheimnis einzuweihen. Sie würde mich auslachen, doch ich begann mir Sorgen zu machen, dass sie durch meine undurchsichtige Situation in Gefahr geraten könnte. Dr. Mårtenssons Wohnung war nicht mehr so anonym und sicher, wie
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