In den Städten, in den Tempeln
Sie lachte leise. »Sicher nicht. Und das Sozialbüro und die anderen Lokationen hier auf der Venus würden es auch niemals zulassen, daß Menschen – ob Frauen oder Männer – auf solche Weise unterdrückt werden. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer Welt und der unsrigen: Wir geben dem Einzelnen nicht nur die Freiheit, sich selbst zu verwirklichen und die ganze Breite seines Ichs zu entfalten, wir kümmern uns auch gegenseitig umeinander und achten darauf, daß die Gesellschaft diesen Erfordernissen entspricht. Glauben Sie, daß ein Mensch, der einen Großteil seiner Zeit dazu verwenden muß, elementarste Bedürfnisse zu erfüllen – und dazu eine Arbeit verrichtet, falls er eine hat, die sich längst vom Menschsein entfernt hat –, glauben Sie, daß ein solcher Mensch überhaupt frei sein kann? «
Sie nickte, als wolle sie sich ihre Worte selbst noch einmal bestätigen.
»All das wollte ich Ihnen klarmachen, indem ich Sie mit einer Situation konfrontierte, die der, in der sich Ihre Tochter auf der Erde befand, sehr ähnlich ist. Dalmistro ...« Sie trat nun wieder an ihn heran. »Shereen ergriff die Flucht, Comptroller. Sie floh vor Ihnen, vor diesem Superschwanz und vor allem anderen. Sie hoffte, hier auf der Venus ein neues und freies Leben beginnen zu können. Comptroller, Ihre Tochter ist ein Mensch, kein Baustein für Ihre Karriere, begreifen Sie das nicht?«
Sie seufzte und interpretierte sein Schweigen als stumme Billigung. »Ich habe in Nirwana nachgefragt, Dalmistro. Ihre Tochter ist dort nie angekommen. Offenbar verließ sie Herbignac und faßte den Entschluß, nicht dem Rat des Hyperprotektors zu folgen. Statt dessen hat sie ihr Glück offenbar woanders gesucht. Es gibt viele Lokationen, Comptroller; die Venus ist groß.« In ihrem Gesicht zeigte sich nun eine Sanftmut, die Clay verblüffte, und einige Sekunden lang verdrängte diese Überraschung sogar seinen inneren Aufruhr. »Lassen Sie sie hier, Comptroller. Erlauben Sie ihr, das Leben zu führen, das sie sich erwünscht.«
»Sie ist ... meine Tochter«, stieß Clay hervor. Er spürte, wie sich die Taubheit, die seinen Körper erfaßt hatte, langsam auflöste. Shereen ist nie in Nirwana angekommen! Dieser eine Satz elektrisierte ihn beinahe, und er dachte an Tasche, die ihm das Bild Herbignacs gezeigt hatte, die Vergrößerung des Spiegelbildes in seinen wäßrigen Augen. Es war gar nicht Shereen gewesen! Eine Fälschung, eine Manipulation, weiter nichts. Und eine Lüge. »Und dieser verdammte Fettsack ...« Er richtete sich halb auf und berichtete der Sphärenschwimmerin von der Entdeckung, die sein schwarzer Koffer gemacht hatte. »Er hat uns in die Irre geführt. Er hat uns in voller Absicht eine falsche Auskunft gegeben. Und ich bin auch sicher, daß er hinter den beiden Anschlägen steckt ...«
Marita Ribeau wirkte plötzlich sehr nachdenklich. »Wenn Sie wirklich recht haben, Dalmistro, dann ...« Sie schüttelte den Kopf und sprach nicht weiter.
»Aber so wird er mir nicht davonkommen!« versprach Clay heiser. »Ich knöpfe ihn mir vor, und wenn er mir dann nicht sagt, was aus Shereen geworden ist, was er mit ihr angestellt hat, dann ...« Wieder entstand das alptraumhafte Bild vor seinem inneren Auge: die goldene Bahre, auf der der reglose Leib seiner Tochter lag; der angebliche Seelenschweif, der sich von der Gesichtsmaske löste und zu den Ergwolken emporschwebte.
Er ballte die Fäuste. »O ja, ich werde ihn zur Rechenschaft ziehen; ich stopfe ihm sein feistes Maul, und dann kann er die Geistwesen und Körperlosen besuchen, die er so verehrt ...!«
»Sie sind abscheulich!« stieß Shereen angesichts seines Wutausbruches hervor.
»Und Sie ... Sie ...« Der Zorn schwemmte die Wirkung des Sedativs fort. »Sie haben aus mir einen verdammten Narren gemacht, Sie ...« Er rutschte vom Ergpolster herunter und fiel zu Boden. Marita Ribeau sprang zur Tür.
»Oh, Sie sind so primitiv! « rief sie, und ihre Augen glitzerten frostig. »Wie konnte ich mir nur vormachen, Sie würden verstehen? Wie konnte ich nur glauben, Sie besäßen auch nur einen Funken Menschlichkeit! Sie sind ein Tier, Comptroller.« Sie beruhigte sich von einem Augenblick zum anderen, öffnete die Tür und drehte sich um. Eine Weile beobachtete sie Clays Bemühungen, auf die Beine zu kommen und sich auf sie zu stürzen. Der Boden der Ruhekammer war nicht von dem Ferroplasma bedeckt, doch die graue Substanz in der Wohnlandschaft begann sich schon wieder zu
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