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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Eins nach dem anderen, sagte er sich langsam und deutlich. Das Wichtigste waren jetzt die Zentnerladungen von Drogen, danach würden womöglich die korrupten Kollegen drankommen.
    Er stand auf und ging. Während er über die Schwelle des Nachtclubs schritt, dachte er, dass das, was er gerade erlebt hatte, unglaublich war. Er musste sich zusammennehmen, um nicht loszurennen, solange ihn noch jemand sehen konnte. Einfach loszurennen und herumzuspringen, um die Spannung loszuwerden, war nicht gerade das, was man sich von einem Drogenhändler, einem hochrangigen Kriminellen, erwartete. Denn genau das war es, was er gerade wurde und was er die nächsten zehn Jahre bleiben würde.
    * * *
    Der Doktor sah auf die Uhr.
    »Ich muss gestehen, dass ich es diesmal schwierig finde, unsere Zeit einzuhalten.«
    Roberto wusste nicht, wo er mit seinen Erzählungen landen würde. Aber er hatte den Eindruck, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben.
    Er verließ das Gebäude und machte sich auf den Heimweg, als er eine Pizzeria bemerkte, in der er früher, vor vielen Jahren, mehrmals gegessen hatte. Gute Pizza, hervorragende, schwer verdauliche frittierte Spezialitäten.
    Zweifellos war sie immer dort gewesen, auch in den letzten sieben Monaten.

6
    Erinnern und Denken sind Tätigkeiten, die nicht immer guttun.
    Der Doktor hatte es ihm immer wieder gesagt. Man sollte sich nicht von Gedanken oder Erinnerungen überwältigen lassen. Wenn sie kamen, sollte man sie aus der Distanz betrachten und an sich abperlen lassen.
    Die Gedanken bleiben nur dann an uns haften, wenn wir sie festhalten. Um das zu veranschaulichen, hatte der Doktor ihm von einer Falle erzählt, die man in Indien dazu verwendete, um eine bestimmte Affenart zu fangen. Diese Falle funktionierte nach einer ebenso einfachen wie grausamen Methode. Es war eine Art Reuse mit einer engen Öffnung, in der sich Futter befand. Der Durchmesser der Öffnung erlaubte es dem Affen zwar, die Hand hindurchzustecken, aber sobald er sich das Futter genommen hatte und die volle Faust wieder herausziehen wollte, passte sie nicht mehr durch die Öffnung. Wenn er das Futter jedoch losließ, kam er wieder frei – andernfalls blieb er gefangen.
    Gute Geschichte, dachte Roberto. Einleuchtend und perfekt.
    Theoretisch.
    Praktisch war es ein Ding der Unmöglichkeit, die Gedanken loszulassen. Wie sollte das gehen, wenn sie sich doch in den Kopf gebohrt hatten wie Schrauben, die einem Wunden in die Seele reißen, wenn man sie herausziehen will?
    Mit der Zeit jedoch, mit Fortschreiten der Therapie und auch mit Hilfe der Psychopharmaka, war ihm diese Empfehlung langsam doch machbar erschienen. Beim Laufen beispielsweise, wenn man ganz konzentriert einen Fuß vor den anderen setzte, war ihm, als würden die Leidensklümpchen nicht mehr ganz so hartnäckig an ihm kleben, und manchmal schienen sie sich sogar ganz aufzulösen. Dann wurde sein Kopf herrlich klar, und es geschah, was der Doktor gesagt hatte: Die Gedanken, diese Brocken aus Erinnerungen, Vorwürfen und Träumen, fielen ab von ihm, wenn auch nur für kurze Zeit. Es reichte aus, um zu erkennen, dass es zumindest möglich war.
    Er ging nach Hause, und dann fiel ihm ein, dass es nur noch zwei Monate bis zur ärztlichen Untersuchung waren. Zum ersten Mal dachte er an die Möglichkeit einer Rückkehr in den Dienst.
    Zum ersten Mal, seit ihn ein Kollege im Büro mit einer Pistole im Mund überrascht hatte, eines Nachts, während er sich fragte, ob man wirklich keinen Schmerz spürte, wenn man sich aus so geringer Entfernung in den Kopf schoss. Sich fragte, ob man wohl Kot in seiner Hose finden würde, wie bei den Toten, die er gesehen hatte, oder ob die instinktive und blitzartige Angst zu sterben doch weniger schnell war als die 9-Millimeter-Patrone der Parabellum, die durch sein Hirn rasen und ihm den Schädel aufreißen würde.
    Er war ganz ruhig und klar, während er den Geschmack von angelaufenem Stahl auf der Zunge spürte und sich das Szenarium seines Selbstmords ausmalte.
    Er erinnerte sich sehr gut an das Gesicht des jungen Unteroffiziers, an den zu Tode erschrockenen Ausdruck eines Menschen, der weglaufen will, um Hilfe zu holen, und zugleich weiß, dass er damit das Falsche tun könnte. Genau das Falsche.
    »Kollege … tu das weg. Nimm sie raus, ich bitte dich.«
    Er sagte wirklich »ich bitte dich«, und Roberto dachte, dass das doch interessant war. Ich bitte dich, schieß dir nicht in den Kopf, Kollege. Du würdest dadurch auch

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