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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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keine Stimmen mehr.
    »Bin ich verrückt?«
    Der Doktor machte eine Handbewegung, als wolle er etwas verscheuchen.
    »Wir haben alle ein Quäntchen Verrücktheit in uns. Wichtig ist nur, wie wir damit umgehen. Einigen gelingt es gut, anderen weniger. Die Leute kommen zu mir, um zu lernen, wie sie mit ihrer Verrücktheit leben können. Auch wenn das den Wenigsten bewusst ist.«
    Dieser Satz hätte ihm Angst machen sollen. Stattdessen überkam Roberto eine unerwartete Gelassenheit. Was der Doktor gesagt hatte, schien ihm durchaus akzeptabel. Wenn man es in Ruhe betrachtete, war es viel weniger schlimm, als wenn man es in einem dunklen Kämmerchen seines Bewusstseins verbarg.
    »Es gibt da etwas, was ich Sie noch nie gefragt habe, Roberto.«
    »Ja?«
    »Lesen Sie gern?«
    Es war unglaublich, dass er ihm diese Frage ausgerechnet an diesem Tag stellte. Vor Kurzem hatte er noch überlegt, dass er sich ein wenig mit Emmas Interessen beschäftigen sollte. Im Internet recherchieren, aber auch etwas lesen. Um vorbereitet zu sein, wenn sie sich unterhielten, und nicht das Gefühl zu haben, im Treibsand zu stecken.
    »Ich kann nicht sagen, ob ich gern lese. Bisher habe ich es nicht oft getan. Wenn es passierte, hat es mir manchmal gut gefallen, aber zur Gewohnheit ist mir das Lesen nie geworden.«
    »Erinnern Sie sich an etwas, was Ihnen gut gefallen hat?«
    Tja, was hatte ihm denn gut gefallen? Ihm fiel nichts ein. Höchstens ein Buch über Basketball, das er vor einigen Jahren gelesen hatte. Er hielt es für besser, das nicht zu erwähnen. Er merkte, dass er den Doktor beeindrucken wollte, und schämte sich für seine Ignoranz. Ganz ähnlich hatte er sich auch vor weniger als einer Stunde gefühlt, als er mit Emma sprach.
    »Vor ein paar Jahren habe ich ein Buch übers Lügen gelesen, das mir ein Richter geschenkt hatte. Es war von einem amerikanischen Psychologen …«
    »Paul Ekman?«
    »Ja, genau. Der, über den sie auch eine Fernsehserie gedreht haben …«
    » Lie to Me , und das Buch war vermutlich Ich weiß, dass du lügst .«
    »Das war es. Ich habe es dann auch beruflich genutzt. Ich meine, es war eine gute Anregung.«
    »Und Romane? Lesen Sie manchmal Romane?«
    Romane. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben einen Roman gelesen zu haben, was wohl bedeutete, dass er keinen gelesen hatte. Wann denn auch? Er war mit neunzehn zu den Carabinieri gegangen. Die Ausbildung, der erste Einsatz, die Arbeit, die ihn immer mehr beanspruchte. In seiner immer knapper werdenden Freizeit hatte er anderes getan. Lauter Dinge, an die er nicht gern zurückdachte.
    »Es macht gar nichts, wenn Sie keine Romane mögen.«
    »Ich glaube, ich habe noch nie einen gelesen. Es ist mir einfach noch nie in den Sinn gekommen. Jetzt, da mir das klar wird, schäme ich mich dafür.«
    »Scham kann ein sehr nützliches Gefühl sein. Es bedeutet, dass irgendetwas nicht stimmt, und kann einen dazu bringen, das zu ändern.«
    Roberto kamen die Tränen. Er war siebenundvierzig, der beste Teil seines Lebens war vorbei und zu Bruch gegangen, und er hatte nichts, was er nach dieser Zeit vorweisen konnte. Er war gescheitert, ein einsamer, ungebildeter und unglücklicher Mann, der sein Leben auf unsinnige Weise vertan hatte.
    Die Stimme des Doktors unterbrach diesen unerträglichen Gefühlsausbruch.
    »Machen wir es doch so. Nach unserer Sitzung gehen Sie einfach in eine Buchhandlung – eine möglichst große, da kann man besser üben – und halten sich dort eine Weile auf. Sie sehen sich die Bücher an, die Sie interessieren – das können ruhig auch Bücher über Sport sein –, und wenn Sie eines finden, das Sie neugierig macht, dann kaufen Sie es, nehmen es mit nach Hause und lesen es. Das nächste Mal sprechen wir dann darüber, wenn Sie wollen.«

11
    Der Doktor hatte ihm eine große Buchhandlung empfohlen. Ihm fiel ein, dass es am Largo Argentina eine wirklich große gab und dass er von der Praxis bis dorthin zu Fuß höchstens eine halbe Stunde brauchen würde.
    Er ging rasch, wie immer, und brauchte genau die Zeit, die er geschätzt hatte. Vor dem Eingang versuchten zwei Afrikaner, ihm Märchenbücher zu verkaufen, und er hatte etwas Mühe, ihnen nichts abzukaufen, sie abzuschütteln und einzutreten.
    Im Inneren der Buchhandlung merkte er, dass er nicht wusste, wie er vorgehen sollte. Bisher hatte er in Buchhandlungen immer ein präzises Anliegen gehabt. Ein spezielles Buch, das er für einen speziellen Zweck brauchte. Man ging zum

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