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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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weil das Parfum bedeutete, dass die Dinge sich zum Positiven wendeten, glaubte Roberto ihm. Der leichte Parfumduft, den Emma zurückließ, als sie ging, war eine gute Nachricht für ihn.
    »Dieses Wochenende ist mir eine Erkenntnis gekommen. Seit etwa zehn Tagen träume ich viel mehr. Ich träume wirklich viel. Davor träumte ich überhaupt nicht. Ja, ich weiß, das kann man so nicht sagen. Wir träumen alle und jede Nacht, wie Sie mir erklärt haben.«
    »Sie träumten, ohne sich daran zu erinnern. In gewisser Weise hat der Satz Ich träumte nicht also durchaus seine Richtigkeit.«
    Roberto sah ihn an und wartete auf eine Erklärung.
    »Kennen Sie die Geschichte von dem Baum, der in einem einsamen Wald umstürzt, wo ihn keiner fallen hören kann?«
    »Nein.«
    »Stellen Sie sich einen alten Baum vor, dessen Stamm morsch und von Parasiten zerfressen ist und der irgendwann nachgibt und mitten unter den anderen Bäumen zu Boden stürzt, wobei er Äste und Büsche mit sich reißt und womöglich noch ein Stück weiterrollt. Jetzt stellen Sie sich vor, dass in diesem Wald niemand ist, der den Baum fallen hören könnte.«
    Roberto sah ihn verwundert an.
    »Können Sie mir folgen?«
    »Ich versuche es.«
    »Wenn keiner da ist, um den Baum fallen zu hören, macht der Baum dann trotzdem ein Geräusch?«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Wenn es niemanden in diesem Wald oder sonst in der Umgebung gibt, der dieses Geräusch hören konnte, können wir dann trotzdem sagen, dass es existiert hat?«
    »Das Geräusch?«
    »Ja.«
    »Natürlich würde ich sagen, ja, aber das ist wahrscheinlich eine Fangfrage.«
    »Keineswegs. Gab es das Geräusch nun oder nicht?«
    »Sicher gab es das.«
    »Wie können wir das sagen, wenn es keiner gehört hat und …«
    »Was hat das denn damit zu tun …«
    »Moment, lassen Sie mich ausreden. Wie können wir das sagen, wenn es keiner gehört hat und keiner davon berichten kann?«
    Roberto antwortete nicht gleich darauf. Das war keine einfach so dahingesagte oder provokative Frage, und deshalb war die offensichtlichste Antwort wahrscheinlich auch nicht die richtige. Der Doktor hatte schon andere Male durchblicken lassen, dass Paradoxe dazu beitragen können, die Wirklichkeit zu verstehen und Probleme zu lösen. Insbesondere die einer verwirrten Psyche.
    »Wollen Sie damit sagen, dass ein Geräusch, das keiner hört, auch nicht existiert?«
    »Das ist ein bekanntes Zen-Rätsel, für das es auch eine wissenschaftliche Grundlage gibt, aber ich will Sie damit nicht langweilen. Die Funktion von Zen-Rätseln – man spricht von koˉan – ist es, den Schüler, in unserem Fall Sie, mit der Widersprüchlichkeit des Realen zu konfrontieren, mit seinem paradoxen Wesen. Sie verdeutlichen, wie viele unterschiedliche Antworten es auf die Fragen des Lebens gibt, und zielen darauf ab, das Bewusstsein aufzuwecken. In gewisser Weise wirken sie wie eine Psychoanalyse.«
    »Und das heißt?«
    »Das heißt, dass die Frage nach dem Baum im einsamen Wald Sie dazu bringen kann, über Träume nachzudenken und über die Frage, was es bedeutet, wenn man sich an sie erinnert oder nicht.«
    »Und was bedeutet es?«
    »Ein Zen-Meister würde bestimmt nicht auf eine so direkte Frage antworten. Der Sinn ist, dass der Schüler bei der Suche nach der richtigen Antwort sich selbst findet. Das heißt, sein Bewusstsein.«
    In diesem Moment hörte man aus einer anderen Wohnung lautes Geschrei. Ein Mann und eine Frau stritten. Die Frau schrie lauter und wütender. Der Mann schien sich zu verteidigen und den Kürzeren zu ziehen. Roberto konnte nicht erkennen, ob die Stimmen von oben oder von unten kamen.
    »Sie sind unter uns«, sagte der Doktor, der Robertos Frage erraten hatte.
    »Warum streiten sie?«
    »Sie sind am Ende ihrer Beziehung angekommen, aber sie haben nicht den Mut, es sich einzugestehen.«
    Jetzt war der Streit verstummt. Roberto verspürte unverständlicherweise großes Mitgefühl für die private Tragödie, die sich im unteren Stockwerk abspielte. Er dachte an enttäuschte Erwartungen und verletzte Gefühle und an die Pläne, die beide zweifellos für ihre gemeinsame Zukunft geschmiedet hatten.
    »Soll ich Ihnen etwas sagen?«
    »Ja, bitte.«
    »Ich habe Mitleid mit diesen beiden Unbekannten. Ich verstehe nicht, warum, aber es tut mir entsetzlich leid für sie. So, als würde ich sie kennen, als wären sie Freunde von mir.«
    Aus der Wohnung unten kam jetzt das Geräusch einer heftig zugeschlagenen Tür, aber man hörte

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