In der Brandung
sollte er sie das fragen. Nur dass ihm das Sprechen unendliche Mühe bereitete. Vielleicht hing seine Müdigkeit damit zusammen, dass er gerade am Einschlafen war.
Sie schien die Stille nicht unterbrechen zu wollen. Sie saß einfach da und wartete. Sie muss sehr abgemagert sein, dachte Roberto. Sie wog fast nichts. Als sie sich aufs Bett gesetzt hatte, hatte die Matratze sich nicht gesenkt. Schon wieder ein kalter Windstoß. Welches Fenster war das bloß, das da offen stand? Vielleicht hatte sie es ja offen gelassen. Vielleicht war sie überhaupt durch das Fenster hereingekommen. Er musste aufstehen und es schließen, aber er war so müde, so entsetzlich müde.
Er schaffte es nicht einmal, den Arm zu heben. Keinen einzigen Muskel konnte er rühren, es war, als sei sein Körper plötzlich gelähmt.
Dann sprach sie, oder besser gesagt, er hörte ihre Stimme. Im Halbdunkel konnte er nicht erkennen, ob ihre Lippen sich bewegten, und ihre Stimme kam aus irgendeiner Ecke des Raumes. Sie klang etwas anders als das letzte Mal.
Sie war anders als das letzte Mal.
Du fragst mich nichts.
Weil ich keine Worte finde.
Du hast schon lange nicht mehr Spanisch gesprochen.
Spreche ich Spanisch? Das habe ich gar nicht gemerkt.
Du hast es nicht gemerkt.
Ist es ein Junge oder ein Mädchen?
Ein Junge.
Wie hast du ihn genannt?
Wie meinen Vater. Wie denn sonst?
Was weiß er über seinen Vater?
Er weiß, dass er tot ist.
Aber ich bin nicht tot.
Sie lachte ein mechanisches Lachen. Roberto glaubte, einen schwachen Geruch nach faulen Eiern wahrzunehmen.
Du bist tot, natürlich bist du tot.
Ich hatte keine Wahl.
Ich weiß, keiner hat die Wahl.
Wie ist er? Wie ist euer Leben? Erzähl es mir.
Es existiert nicht. Unser Leben.
Was soll das heißen?
Nichts existiert. Für dich sind wir nur ein Traum.
Ich wollte das nicht.
Keiner will nichts.
Ich habe Angst.
Du hast recht, es ist beängstigend.
Ich möchte das Kind sehen.
Es ist dort.
Wo?
Wo du es nicht sehen kannst.
Warum?
Du wirst es nie sehen.
Warum?
Weil ich nicht existiere und du auch nicht.
Roberto richtete sich auf und streckte die Hand aus, um sie zu berühren oder zu rütteln oder sonst irgendetwas. Seine Hand glitt durch sie hindurch, und sie senkte den Blick, um der Hand zu folgen, die durch sie hindurchglitt. Roberto sah ihren gesenkten Blick, ihre Haare und zugleich, in einer unnatürlichen Überschneidung, ihr Gesicht, ihr Lächeln, das zu einem Gelächter wurde und noch furchterregender war als alles andere.
Als Roberto dachte, dass er gleich verrückt werden würde vor Angst, verschwand plötzlich alles, und das Zimmer wurde wieder normal.
Normal.
Giacomo
Heute war Ginevra wieder in der Schule, aber das ist keine gute Nachricht.
Sie kam zu spät, die erste Stunde hatte bereits angefangen. Als ich sie ins Klassenzimmer kommen sah, merkte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie war nachlässig gekleidet, was noch nie vorgekommen war, seit ich sie kenne, aber was vor allem anders war, war ihr Gesichtsausdruck. Ich beobachtete sie alle fünf Unterrichtsstunden lang. Sie war geistesabwesend, hatte einen leeren Blick, hörte nicht, wenn sie jemand ansprach – nicht ich, mir fehlte der Mut dazu –, und sie lächelte den ganzen Vormittag kein einziges Mal.
Die Italienischlehrerin ertappte sie drei Mal, wie sie nicht aufgepasst hatte, und schrieb schließlich einen Vermerk ins Klassenbuch. Es war das erste Mal in zwei Jahren.
Am Ende der fünften Stunde verließ sie das Klassenzimmer, ohne mit irgendjemandem ein Wort zu wechseln. Sie bewegte sich, als stünde sie unter Drogen, und schien sich nicht zu erinnern, wo die Tür war. Draußen wartete niemand auf sie mit einem Mofa oder Ähnlichem. Sie ging allein fort, nachdem sie durch die lärmende Schülermenge vor dem Schultor geschritten war wie eine Schlafwandlerin.
Ich ging mit einem unguten Gefühl nach Hause, ich fragte mich, was passiert sein konnte. Ich dachte, dass ich jetzt gern Scott begegnet wäre, damit ich ihn nach seiner Meinung und einem Rat fragen konnte. Ich sehnte mich so sehr nach ihm, dass ich irgendwann versuchte einzuschlafen, damit ich von ihm träumen und mit ihm sprechen konnte.
Ich legte mich aufs Bett und schloss die Augen, wobei ich mir Bilder vom Park und von Scotts Schnauze vorstellte.
Aber es war nichts zu machen: Ich blieb wach, und als ich schließlich aufstand, fühlte ich mich einsam und traurig.
20
»Man nennt das hypnagoge Illusionen.«
»Was für
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