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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Illusionen?«
    »Hypnagoge Illusionen sind so etwas wie Halluzinationen. Sie entstehen in der Übergangsphase vom Wachzustand zum Schlaf, in der so genannten hypnagogen Phase. In dieser Phase – die von ein paar Sekunden bis hin zu mehreren Minuten andauern kann – ist es für den Träumenden sehr schwer, den Traum von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Wie es auch bei Ihnen der Fall war. Hatten Sie auch den Eindruck, sich nicht rühren zu können, bei Bewusstsein zu sein, aber wie gelähmt?«
    »Ja, genau. Ich war wach, mit offenen Augen und betrachtete alles, ich konnte auch sprechen – tatsächlich glaube ich, dass ich mit dieser Person, also dieser Erscheinung, gesprochen habe –, aber ich konnte mich nicht rühren. ›Wie gelähmt‹ trifft es genau.«
    »Das ist eine typische Nebenwirkung der hypnagogen Erfahrung. Alles in allem eine sehr unangenehme Erfahrung.«
    Der Doktor machte eine ziemlich lange Pause und sah Roberto dabei in die Augen.
    »Manchmal ist es auch eine sehr beängstigende Erfahrung.«
    Nach weiteren Minuten des Schweigens fügte er hinzu: »Wer war die Person, die Sie gesehen haben?«
    Die Frage war zu erwarten gewesen. Er hätte den Vorfall nicht erzählen dürfen, wenn er diese Frage vermeiden wollte. Das war klar.
    Roberto nahm einen Füller vom Schreibtisch, zog die Kappe ab, betrachtete die Spitze der Feder, als sei sie etwas besonders Interessantes, steckte dann die Kappe wieder auf und wiederholte den Vorgang noch einmal. Und dann noch einmal. Und noch einmal. Der Doktor ließ ihn gewähren.
    »Warum sagen Sie nichts?«, fragte Roberto und unterbrach die rhythmische Abfolge brüsk.
    »Ich fürchte, Sie sind derjenige, der jetzt etwas sagen müsste. Falls Sie Lust dazu haben.«
    Roberto fing wieder an, mit dem Füller zu spielen. Mehrere Minuten vergingen.
    »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
    »Vielleicht, weil ich keine Lust dazu habe. Keine Lust, darüber zu sprechen.«
    »Worüber zu sprechen?«
    »Eben, dazu habe ich keine Lust.«
    »Ich hingegen glaube, dass sie sehr große Lust dazu haben, aber nicht den Mut dazu finden. Vielleicht ist der richtige Moment jetzt gekommen.«
    Er hatte recht, wie immer, und Roberto wusste es. Er spürte, wie der Zorn in ihm wuchs und sich ausbreitete.
    »Verdammt, wovon reden Sie eigentlich?«
    »Sagen Sie mir doch, wovon wir reden.«
    Die Stimme des Doktors war ruhig, aber mit einer Spur von Härte, die Roberto unerträglich fand. Er spürte, dass er gleich die Beherrschung verlieren würde. Er stand auf und fegte alle Gegenstände vom Schreibtisch. Der Doktor rührte sich nicht, versuchte auch nicht, ihn zurückzuhalten, er schob auch seinen Sessel nicht zurück. Er blieb stumm.
    »Wissen Sie, was ich ganz bestimmt nicht will? Weiter Ihren Dummheiten zuhören. Ich gehe jetzt, und ich glaube nicht, dass ich wiederkomme.«
    Er hatte Lust, den Schreibtisch mit Fußtritten zu bearbeiten, aber er hielt sich zurück. Er ging, ohne sich umzudrehen. Und trotzdem glaubte er zu sehen, wie der Doktor an seinem Platz sitzen blieb und ihm nachblickte, wie er aus dem Zimmer ging und verschwand.
    * * *
    Die Tage werden länger, dachte Roberto, als er das Haus verließ. Es war noch hell, und er meinte sich zu erinnern, dass es das letzte Mal um dieselbe Zeit schon dunkel gewesen war. Und das, obwohl er diesmal eine halbe Stunde früher gegangen war. Dann sagte er sich, dass das absurd war, dass es das letzte Mal auch hell gewesen sein musste, weil es ja schon Ende April war. Warum erinnerte er sich dann an Dunkelheit und eine winterlich beleuchtete Straße? Das würde er später noch einmal überdenken, jetzt war er verwirrt. Sehr, sehr verwirrt. Er spürte ein Kribbeln, das vom Rücken ausging und sich bis zu den Lenden ausbreitete.
    »Meine Nerven liegen blank«, sagte er laut.
    Das Kribbeln wurde immer unerträglicher, während Roberto weiterlief und sich dachte, dass er gar keine Lust zum Laufen hatte.
    An einem Taxistand in wenigen hundert Metern Entfernung von der Praxis, der ihm nie zuvor aufgefallen war, stand ein Taxi. Der Fahrer las in einer Zeitschrift. Ohne nachzudenken stieg Roberto ein. Der Fahrer legte die Zeitschrift auf den Beifahrersitz und drehte sich nach seinem Kunden um. Er bewegte sich gemächlich und bedächtig. Er war schon älter, eigentlich zu alt, um noch zu arbeiten. Dem Aussehen nach musste er um die siebzig sein, höchstens ein paar Jahre jünger. Roberto fragte sich, ob man in dem Alter noch Taxi fahren

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