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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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durfte.
    »Guten Abend, der Herr, wohin geht die Fahrt?«
    Tja, wohin eigentlich?
    »Zeigen Sie mir Rom.«
    Der alte Taxifahrer sah ihn verwundert an. Rom zeigen, wie meinte er das? Er lächelte erwartungsvoll. Freundlich.
    »Fahren wir erst einmal zum Kolosseum und zum Forum Romanum.«
    »Ist der Herr zum ersten Mal in Rom?«
    »Ja.«
    »Ich fahre Sie gern, mein Herr, aber es ist spät. Wenn wir dort ankommen, sperren die zu und lassen Sie nicht mehr herein.«
    »Das macht nichts. Wir halten dort, und ich werfe einen Blick hinein. Ich komme vielleicht ein anderes Mal wieder.«
    Der Mann sah ihn noch ein paar Sekunden an. Dann zuckte er kaum merklich die Achseln, drehte sich wieder nach vorn und fuhr los.
    Das Ruckeln des Autos und die Vorstellung, ein provisorisches Ziel zu haben, bewirkten, dass Roberto sich ein wenig beruhigte.
    In einem jener Magazine, die man im Flugzeug findet, hatte er einmal eine Reportage über Durchgangsorte gelesen. Der Autor sprach von dem angenehmen Gefühl von Unverbindlichkeit, das man an Orten verspürt, an denen man ankommt und abreist. An Flughäfen zum Beispiel, aber auch an Bahnhöfen, Busbahnhöfen oder in Motels, in denen man nur eine Nacht bleibt und in deren Umgebung es höchstens einen Supermarkt, ein Fast-Food-Restaurant und ein paar Häuser gibt, von denen man sich fragt, wer dort bloß wohnen kann. Der Artikel handelte von der Unruhe und der kurzlebigen Sehnsucht, die Orte auslösen, die man schnell wieder verlassen muss.
    Als Roberto undercover arbeitete, war für ihn alles immer nur provisorisch. Aus diesem Grund fühlte er sich an solchen Orten wohl; er gewann die absurde Routine seiner falschen Existenz beinahe lieb. Seine ganze Existenz war provisorisch, und paradoxerweise gab ihm das das Gefühl, nicht unverbindlich zu sein.
    Als alles in die Brüche ging, hatte auch dieses komplizierte Gleichgewicht nicht mehr funktioniert. Die Vorstellung, an einem Ort zu bleiben, mit einer einzigen Identität und einer normalen Arbeit, hatte ihm auf einmal mit großer Deutlichkeit vor Augen geführt, dass es in seinem Leben gar keine Fixpunkte gab.
    Jetzt saß er in einem Taxi, ohne Grund und ohne Ziel und auch ohne irgendein Gravitationszentrum, und fuhr durch die Straßen einer Stadt, in der er jahrelang gelebt hatte, ohne sie wirklich zu kennen. Ein friedliches Gefühl überkam ihn.
    Sie bogen in die Via dei Fori Imperiali ein, und vor ihnen tauchte das Kolosseum auf.
    »Soll ich hier anhalten?«
    Er bejahte, aber so leise, dass er es wiederholen musste.
    Der Taxifahrer fuhr an den Straßenrand, und Roberto stieg aus. Seine Wohnung lag nur wenige hundert Meter entfernt, doch alles, was er sah, war vollkommen neu für ihn.
    Er hatte das Gefühl, auf dem Kopf zu stehen, ja, kopfüber in der Luft zu hängen. Aus dieser Perspektive würde er die Dinge jetzt langsam verstehen. Er wusste zwar nicht, was, aber er hatte den Eindruck, bald alles besser verstehen zu können.
    Kopfüber glaubte er, endlich sehen zu können, was ihn umgab. Die umgekehrte Welt besaß eine Deutlichkeit, eine Transparenz, eine Verständlichkeit, die ihr vorher gefehlt hatten. Die Bögen und Wölbungen folgten aufeinander und zeichneten Fenster in den dunkelblauen Himmel, als enthielten sie eine Lösung. Der Himmel nahm die Form an, die die Linien des Kolosseums ihm gaben. Was Roberto sah, war in Wirklichkeit nicht das Kolosseum, sondern der vom Kolosseum gezeichnete Himmel. Diese veränderte Wahrnehmung gab ihm das Gefühl, vollkommen von der Zeit losgelöst zu sein.
    »Mein Herr, entschuldigen Sie …«
    »Ja?«
    »Wir dürfen hier nicht so lange halten. Wenn die Polizei kommt, wird sie dafür sorgen, dass ich es bereue, auf der Welt zu sein und ein Taxi zu fahren.«
    Roberto fühlte, wie ihn eine Welle von Sympathie für den alten Taxifahrer überkam. Er stieg wieder ein, und sie fuhren los, auf das Kolosseum zu und dann im Bogen darum herum.
    »Ist das wirklich das erste Mal, dass Sie in Rom sind?«
    Roberto nickte, beinahe glaubte er es selbst. Der andere musterte ihn im Rückspiegel.
    »Aber Sie sind doch Italiener, oder?«
    Wieder ein Nicken.
    »Wie viel Zeit haben Sie denn für die Fahrt?«
    Wie viel Zeit hatte er? Wie viel Zeit hatte er generell? Er hörte sich antworten: »Zwei Stunden. Dann muss ich zu einer Verabredung.«
    »Gehen Sie gern ins Kino, mein Herr?«
    Ob es wohl jemanden gab, der auf diese Frage mit nein antwortete? Gab es jemanden, der keine Filme mochte? Ja, er ging gern ins Kino,

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