In der Brandung
Geruch war. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich langsam erkennen, was in dem Zimmer war. Ein Schreibtisch mit einem Computer, Hefte, Stifte, Zeitungen; ein Regal mit Stofftieren, ein paar Bücher, ein Radio, ein kleiner Fernseher, ein Poster von Justin Bieber – der in meinen Augen eine Witzfigur ist, bei Mädchen aber sehr gut ankommt –, das etwas schief aufgehängt war.
Und dann das Bett, in dem Ginevra tief schlummerte, obwohl sie doch gerade erst hereingekommen war.
Ich ging näher. Ihr Atem ging etwas unregelmäßig, sie umarmte ihr Kopfkissen und war wunderschön. Dann verzog sie auf einmal den Mund, als müsse sie weinen und versuche, sich zusammenzureißen.
»Hilfe«, flüsterte sie.
»Was ist los?«, fragte ich, aber sie hörte mich nicht. Sie schlief.
»Ich bitte dich, hilf mir doch ….«
»Ich will dir ja helfen. Aber du musst mir sagen, was los ist.«
Sie hörte mich nicht und begann nach einiger Zeit im Schlaf zu weinen.
Das machte mich verrückt. Ich dachte, ich müsste sie aufwecken und ihr sagen, sie solle nicht weinen, ich würde sie beschützen und alle ihre Probleme lösen, wenn sie mir nur sagte, was los war. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter und spürte in demselben Moment, wie durch die Hand ein elektrischer Schlag meinen ganzen Körper durchzuckte. Ich hatte eine grauenhafte Vision – Dutzende von kleinen Teufeln, die mit widerlichen Geräuschen auf mich sprangen –, und dann wachte ich ganz plötzlich auf, so als hätte mich jemand von irgendwo hinuntergeschubst.
* * *
Seit ich angefangen habe, in den Park zu gehen, bin ich noch nie so aufgewacht.
Ich stand voller schlimmer Vorahnungen auf, und es wurde kein guter Tag, nach diesem Traum und diesem Erwachen. In der Schule war ich noch zerstreuter als sonst, und die Mathelehrerin regte sich über mich auf. Sie meinte, ich sei wohl gar nicht in der Klasse, sondern irgendwo anders.
Auch Ginevra war – wie immer in letzter Zeit – vollkommen geistesabwesend. Ich dachte mir, dass wir in dieser Klasse wie zwei Fremde waren; aus unterschiedlichen Gründen waren wir dort vollkommen fehl am Platz.
Am Schultor beschloss ich, ihr zu folgen. Sie ging schnell weg, sie flüchtete beinahe. Ich lief schnell auf die andere Straßenseite, überholte sie um etwa fünfhundert Meter, überquerte die Straße wieder und ging ihr wie zufällig entgegen.
Ich weiß nicht, was ich vorhatte. Vielleicht wollte ich sie aufhalten und mit ihr sprechen, sie fragen, was los war, und ihr meine Hilfe anbieten.
Doch als wir uns begegneten, sah sie mich nicht einmal an – ja, sie sah mich noch nicht einmal – und ging an mir vorbei.
24
Roberto ging los, und plötzlich überkamen ihn Kindheitserinnerungen. Einige spielten im heimeligen Halbdunkel des Hauses, in dem er als Kind gewohnt hatte, andere im hellen Sonnenlicht, im blendenden Schaum der Wellen.
Die Erinnerungen an die Zimmer seiner Vergangenheit waren voller kleiner Geräusche und einem beständigen, wohlwollenden Murmeln: seine Zimmertür, die mit einem vertrauten Knarzen auf- und zuging; seine Mutter, die auf Englisch telefonierte, mit ihrem italienischen Akzent, auf den sie so stolz war; das Geräusch von fließendem Wasser aus dem Badezimmer; die Stimmen aus dem Fernsehgerät, wenn er schon im Bett lag; der weiche, leicht schleppende Schritt seiner Mutter am Morgen.
Die Erinnerungen im Licht und auf dem Meer hingegen waren ohne Ton. Starker Wind, große Wellen mit glitzernden Kronen, gleitende Surfbretter, Körper, die vom Wasser kraftvoll herumgewirbelt wurden. Alles ohne Geräusche und ohne Stimmen.
Roberto war so versunken in diese Wolke aus Erinnerungen, dass er in eine Pfütze trat und sich den Schuh schmutzig machte. Da fing er an zu reden. Leise, ein Flüstern, aber doch so deutlich und klar, dass jemand, der neben ihm gegangen wäre, alles verstanden hätte.
»Erinnerst du dich an die Kammer, in der wir die Schuhe und das Schuhputzzeug aufbewahrten? Ich bin sieben, acht Jahre alt und sitze in dieser Kammer auf dem Boden. Ich soll die Schuhe meines Vaters putzen. Es ist meine Aufgabe, jede Woche die Schuhe meines Vaters zu putzen. Beim Schuhputzen gibt es bestimmte Regeln, an die man sich halten muss. Zuerst muss man sie vom Staub befreien, denn sonst vermischt er sich mit der Schuhcreme, und alles verschmiert. Den Staub nimmt man mit einer großen Bürste ab, sie ist hellbraun und hat harte Borsten. Wenn das getan ist, kommt die Schuhcreme
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