In der Brandung
Aber denn merkte ich, dass ich keine Lust auf solche Spielchen hatte. Mochte er denken, was er wollte, ich erkundigte mich direkt nach Estela. Ich fragte, ob ihr Vater noch saß, ob sie irgendwie in die Ermittlungen verwickelt worden war und ob sie noch in Bogotá lebte. Ich bat ihn, mir alles, was er herausfinden konnte, mitzuteilen.«
»Und er?«
»Er kommentierte das nicht und fragte auch nicht, wozu ich diese Informationen brauchte. Er sagte nur, dass er zwei, drei Tage Zeit dafür bräuchte. Nach genau drei Tagen rief er mich dann zurück und berichtete, was er herausgefunden hatte: Estela lebte noch in Bogotá, im Haus ihres Vaters, und war in keiner Weise von den Ermittlungen betroffen gewesen. Sie besuchte ihren Vater regelmäßig im Gefängnis. Bevor er mir den Rest sagte, zögerte er einen Moment, und da war ich mir sicher, dass er alles über sie und mich wusste.«
»Was sagte er?«
»Nachrichten, die er über einen V-Mann bekommen hatte. Er sagte, dass Estela zwei Monate nach der Verhaftung in einer Privatklinik abgetrieben hatte. Heimlich, weil Abtreibung in Kolumbien illegal ist. Dieses Kind war mein Sohn.«
Robertos Erzählung brach ab, wie eine Straße, die plötzlich im Nichts endet.
Die Wanduhr schlug zwei Mal. Der Doktor stand auf, um das Fenster zu öffnen und den Rauch herauszulassen. Die Luft war mild, und nur wenige Autos fuhren vorbei. Das Rauschen der Nacht führte einen zarten, frühen Duft nach Lindenblüten mit sich.
»Zeit zum Schlafengehen«, sagte der Doktor und trat wieder an seinen Schreibtisch, ohne sich jedoch zu setzen. Roberto stand auf und hatte das Gefühl, dass seine Beinmuskeln eine längst vergessene Elastizität wiedergefunden hatten.
»Was … wie geht es jetzt weiter?«
Der Doktor lächelte. Seine Augen waren halb geschlossen, und er wirkte müde.
»Haben Sie diese Geschichte schon jemals einem Menschen erzählt?«
»Nie, und ich glaube auch nicht, dass ich dazu in der Lage gewesen wäre.«
»Sehen Sie, Sie dachten, Sie wären dazu nicht in der Lage, aber Sie haben es geschafft. Der Rest kommt dann von selbst.« Einen Moment später fügte er hinzu: »Wenn Sie wollen, sehen wir uns am Montag. Wenn Sie hingegen eine Pause brauchen, ist das auch in Ordnung. Sie müssen das nicht gleich entscheiden.«
Sie gingen zur Tür, doch Roberto wollte noch nicht gehen.
»Sie denken an dieses Kind, als ob es zur Welt gekommen wäre, stimmt’s?«
»Ja. Ich denke an das Kind, als wäre es auf die Welt gekommen und ein kleiner Junge geworden. Ich stelle ihn mir vor, als einen Jungen …«
»Das geht vorbei. Mit der Zeit und mit etwas Geduld wird es vorbeigehen.«
Roberto nickte, und der Doktor nickte ebenfalls.
»Wir sind einen unorthodoxen Weg gegangen. Brandy, Schokolade und nächtliche Sitzung. Vielleicht schreibe ich darüber einen Beitrag für den nächsten Kongress. Das könnte eine neue Therapieform werden.«
Giacomo
Ich war mit Scott im Park, aber ich weiß nicht, wie wir dorthin gelangt sind.
Ein paar Meter vor uns lief Ginevra, mit dem Rücken zu uns.
Ich rief sie, aber sie drehte sich nicht um.
Ich rief sie wieder, und dann lief sie wieder so schnell wie in dem anderen Traum. Ich rannte ihr wieder nach, und diesmal konnte ich zwar mithalten, sie aber nicht einholen. So sehr ich mich auch bemühte, der Abstand zwischen uns blieb immer gleich. Scott folgte mir wortlos, doch ich spürte, dass auch er sich Sorgen machte.
Irgendwann kam sie bei einer Tür an, die plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht schien, mitten auf der Wiese, komplett mit Türstock, Rahmen und Klinke. Zu meiner großen Verwunderung machte Ginevra sie auf, ging hindurch und verschwand, als führte die Tür in ein Haus oder ein Zimmer oder wenigstens irgendein Gebäude.
Stattdessen war es nur eine Wiese. Ich ging mehrmals um die Tür herum, und diesmal gab es keinen Zweifel.
»Was ist das für eine Tür, Scott?«
Vergiss es, Chef. Lass uns gehen.
»Was soll das heißen, lass uns gehen? Was ist mit Ginevra passiert?«
Scott setzte sich hin und seufzte. Er sah besorgt aus.
Ginevra ist in ihrem Zimmer und schläft. Gehen wir.
»Ich gehe da durch. Sie braucht meine Hilfe.«
Ich würde das lieber nicht tun, Chef.
»Ich gehe.«
Ich wartete seine Antwort nicht ab und sah ihn nicht einmal an. Ich machte auf, ging hinein, schloss die Tür hinter mir und war auf einmal in einem dunklen Raum. In der Luft hing ein schwacher Duft, und es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass es Ginevras
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