In der Brandung
verrückt werden, wenn sie im Käfig gefangen sind. Und wissen Sie, was das Schlimmste war?«
»Was?«
»Mit Phil, dem DEA-Agenten, zu sprechen. Er war froh, dass alles zu Ende ging und dass wir dort fertig waren. Ich hingegen war verzweifelt und musste so tun, als sei ich ebenso stolz und erleichtert wie er. Mit Estela hingegen musste ich so tun, als freute ich mich auf unsere gemeinsame Zukunft, darüber, dass wir heiraten würden, musste mit ihr darüber diskutieren, ob es wohl ein Junge oder ein Mädchen würde, ob wir ihm einen italienischen Namen geben würden, weil sie Italienisch schön fand und wollte, dass wir in Italien lebten, weil es das schönste Land der Welt …«
Der Doktor machte die Zigarette aus und zerdrückte sie im Aschenbecher fester, als es nötig gewesen wäre.
»Gab es einen Moment, an dem Sie vorhatten, ihr die Wahrheit zu sagen?«
»Ja. Ich wollte ihr die Wahrheit sagen und sie bitten, mit mir zu fliehen, aber diese Idee war vollkommen verrückt. Wie konnte sie mit mir fliehen, während ich ihren Vater ins Gefängnis brachte, wo er vielleicht für den Rest seines Lebens bleiben würde? Also überlegte ich, die ganze Operation auffliegen zu lassen, die Polizei und alles andere hinter mir zu lassen und mit Estela in Kolumbien zu bleiben. Ich erwog das ernsthaft – oder vielleicht wollte ich nur denken , dass ich es ernsthaft erwog –, aber ich hatte nicht genug Mut für so etwas. Also ging ich am vereinbarten Tag bei José vorbei, um mich zu verabschieden, umarmte ihn und sagte, wir würden uns in einem Monat wiedersehen. Dann ging ich zu Estela, und sie küsste mich und sagte, sie würde mich schrecklich vermissen, sie würde die Minuten bis zu meiner Rückkehr zählen, und die Begegnung mit mir sei das Schönste, was ihr in ihrem Leben passiert war. Ich antwortete, dass das für mich auch so war, und das entsprach der Wahrheit.«
Roberto sprach mit gesenktem Kopf, die Augen auf die hölzerne Schreibtischplatte gerichtet. Nach einer Weile hob er den Kopf, und seine Augen begegneten denen des Doktors.
»Ich bin abgereist und habe sie nie wieder gesehen.«
Es war, wie wenn nach einem ohrenbetäubenden Lärm plötzlich Stille einkehrt.
Roberto nahm eine Hand in die andere, sank ein paar Sekunden lang nach vorn und starrte ins Leere. Der Schmerz begann zu fließen. Es tat weh, das stimmte, aber es war weniger schlimm als all das, was sich die ganze Zeit in ihm aufgestaut hatte. Er dauerte eine ganze Weile.
» Over the Rainbow . Das war der Codename.«
»Wie bitte?«
» Over the Rainbow war der Deckname für die Operation.«
»Wie das Lied.«
»Ja, wie das Lied.«
Die Operation war gestartet worden, mit Festnahmen überall auf der Welt, mit der Beschlagnahme von Firmen, Geldern, Drogen, Autos, Schiffen. Eine der größten Aktionen in der Geschichte der Drogenbekämpfung.
Natürlich war auch Estelas Vater verhaftet worden. Die Kollegen konnten sich nicht erklären, warum Roberto nicht an der Durchführung der Festnahme teilnehmen wollte. Er wirkte apathisch, auch nach drei Wochen Freistellung und auch, als er erfuhr, dass er für eine Tapferkeitsmedaille vorgeschlagen worden war. Er nahm seine Arbeit wieder auf, aber in den Augen seiner Kollegen und Vorgesetzten war er nicht mehr der Alte. Seine Vorgesetzten beschlossen sehr schnell, ihm keine heiklen Aufgaben anzuvertrauen, zumindest vorerst nicht. Und nach ein paar Monaten war allen klar, dass man ihm momentan überhaupt keine Aufgaben anvertrauen konnte. Er wurde dabei überrascht, wie er Selbstgespräche in seinem Büro führte. Ein Kollege traf ihn, als er, auch diesmal allein, mit zerknitterten Kleidern – er, der immer so auf sein Äußeres geachtet hatte – durch die Straßen spazierte, mit vom Alkohol glänzenden, rot geränderten Augen, Bartstoppeln, gebeugten Schultern und einer im Mundwinkel hängenden Zigarette.
Und dann die Episode, als der junge Kollege ihn in seinem Büro überrascht hatte, die Pistole im Mund, mit geistesabwesendem Gesichtsausdruck.
Sie hatten ihm die Dienstpistole abgenommen und ihn aus gesundheitlichen Gründen freigestellt. Ein neutraler Ausdruck dafür, dass er verrückt geworden war, dienstunfähig, eine Gefahr für sich und andere.
»Etwa zehn Monate vergingen, bevor ich den Mut fand, einen Kollegen von der kolumbianischen Polizei anzurufen. Einen, mit dem ich mich fast angefreundet hatte. Ich wollte erst um den heißen Brei herumreden und dann die Frage wie beiläufig einflechten.
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