In der Falle - Leino, M: In der Falle
wirklich zuzuhören, er erinnerte sich Wort für Wort an den Brief, den er in Vaters Handschrift zusammengeschustert hatte. Er wusste nicht, ob Vater so geschrieben hatte, wie er redete, aber er nahm es an. Er hatte die ganze Wohnung abgesucht, aber keinen einzigen von Vater geschriebenen Brief gefunden, nicht mal eine Postkarte. Dafür hatte er den Christbaumschmuck auf dem obersten Regal in der Flurgarderobe gesehen, in einer Schuhschachtel hinter seinen alten Schlittschuhen und Vaters noch älteren Boxhandschuhen. Er hatte sich die Boxhandschuhe kurz übergestreift und sich vorgestellt, dass nichts passiert wäre. Hinterher hatte er den miefigen Geruch nach Boxhalle an den Händen. Von dem Christbaumschmuck hatte er Mutter noch nichts erzählt. Warum, wusste er selbst nicht. Vaters Handschrift hatte er schließlich auf einem alten Einkaufszettel im offenen Küchenregal zwischen Pizzagutscheinen, alten Lottoscheinen und Rechnungen gefunden.
»Mit Grüßen von irgendwo, Arto« , schloss Mutter und hob den Blick.
»Gut zu hören, dass es ihm gut geht«, sagte Vesa.
Mutter sah ihn durchdringend an.
»Was ist?«
»Ich hab Tiinas Mutter im Einkaufszentrum getroffen«, sagte Mutter.
»Wann?«
»Letzten Samstag.«
»Ich wusste nicht mal, dass du sie kennst.«
»Tu ich auch nicht. Aber sie kannte mich, vom Sehen. Sie hat erzählt, dass ihr in Schweden wart.«
»Das hat sie falsch verstanden. Wir waren in ihrem Sommerhaus in Hamina, ich hab’s dir doch erzählt.«
»Und ich hab’s dir geglaubt. Sie sagt nur, dass sie sich nach der Scheidung kein Sommerhaus mehr leisten kann, sie wäre froh, wenn sie jeden Monat das Geld für die Miete zusammenkriegt. – Du hast mich angelogen.« Mutters Wangen zuckten.
Vesa sagte nichts. Er suchte fieberhaft nach einer glaubwürdigen Erklärung, aber er fand sie nicht.
»Ich frag mich, was du mir noch alles vorgelogen hast. Das frag ich mich, und wenn ich ehrlich bin, frag ich es mich schon die ganze Zeit.«
Vesa verschloss die Augen vor Mutters anklagendem Blick. Vor seinem geistigen Auge tauchte die nächtliche Baustelle auf: klein, abgelegen, ein Grundstück irgendwo in Vantaa, auf dem vier im Bau befindliche zweistöckige Einfamilienhäuser standen. Sich selbst sah er den feinen Sand eines noch nicht gegossenen Estrichs schaufeln, Friedhofssand im künftigen Wohnzimmer des am weitesten gediehenen der vier Häuser. Macho und die Russen hatten mit geübten Griffen die Teile der Armierung aus ihrer Verankerung gelöst und die darunter liegenden Styroporplatten zu einem ordentlichen Stapel in der Zimmerecke aufgetürmt. Danach hatte er zu schaufeln begonnen. Die Russen hatten ächzend die zwei mit Klebeband umwickelten grünen Bündel gebracht und gewartet, dass er fertig wurde. Macho hatte Vesa dabei fotografiert und mit einer kleinen Taschenlampe für das nötige Licht gesorgt. Er hatte gefroren, obwohl ihm der Schweiß übers Gesicht und den Rücken lief. Der Sand knirschte unnatürlich laut, wenn die Schaufel hineinfuhr. Von diesem Knirschen und dem kalten Schweiß war Vesa seither beinahe jede Nacht aufgewacht.
»Der Brief ist nicht von Arto«, sagte Mutters Stimme. »Das seh ich. Du hast ihn geschrieben. Ich bin vielleicht nicht so gescheit wie du, aber dumm bin ich deshalb noch lange nicht.«
Vesa machte die Augen wieder auf. In Mutters Augen standen zwei Seen, die noch nicht zu Tränen zerplatzt waren. Sie hatten es beide gewusst und dem anderen Theater vorgespielt.
»Wie soll er erfahren, dass er nach Hause kommen kann, wenn wir nicht wissen, wo er ist?«
»Gar nicht«, hörte Vesa sich antworten.
»Wo ist Arto?«, schrie Mutter, und jetzt lösten sich die Tränen und rollten an der Nase entlang. »Ist er tot? Haben sie ihn umgebracht?«
Vesa konnte nichts sagen, er nickte nur.
»Er ist tot. Arto ist tot.« Während sie es sagte, schüttelte sie heftig den Kopf. Die Tränen flossen jetzt in Strömen. Sie schloss die Augen wie Vesa zuvor. Zum Glück sah Mutter trotzdem nicht, was er gesehen hatte.
Vesa stand auf, umrundete den Tisch und half seiner zitternden Mutter auf die Beine. Sie widersetzte sich nicht, aber sie konnte sich auch nicht allein aufrecht halten. Vesa legte die Arme um sie. Sie drückte das nasse Gesicht gegen die Brust ihres Sohnes. Vesa hatte vergessen, wie es sich anfühlte, die eigene Mutter zu umarmen. Sie war so klein, so zart. Er strich ihr mit einer Hand über die Haare, die sich so weich und dünn anfühlten wie seine eigenen. Vesas
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