In der Falle - Leino, M: In der Falle
Augen waren trocken. Er konnte nicht weinen, aber er schloss die Augen und drückte das Kinn auf Mutters Scheitel. Sie zitterte, und er bewegte langsam den Oberkörper, als würde er sie wiegen. Wann hatten sie sich zuletzt umarmt, wann waren sie einander zuletzt so nah gewesen? Vesa erinnerte sich nicht. Der Schmerz brachte sie einander näher, wenigstens für einen Augenblick, so wie er Tiina und ihn auf dem Schiff einander nähergebracht hatte. Trauer und Schmerz hatten ihn seine ganze Kindheit begleitet, und doch konnte er sich an solche Momente der Berührung und Zuneigung nicht erinnern.
»Wir schaffen das, Mutter. Wir schaffen’s.«
»Wie denn? Arto ist tot. Mein Arto ist tot. Wir müssen die Polizei anrufen. Die Verbrecher müssen eingesperrt werden.«
»Wir können nicht zur Polizei. Lass uns darüber nachdenken, wenn Vaters Schulden bezahlt sind.«
»Hier geht’s nicht um Geld! Sie haben meinen Mann umgebracht!«
»Doch, genau darum geht’s hier, um Geld.«
Mutters Beine gaben nach, und Vesa musste alle Kraft aufwenden, damit sie ihm nicht entglitt. Für einen winzigen Moment bildete er sich ein, die Situation wäre genau umgekehrt. Es wäre eine andere Zeit, und er wäre derjenige, der getröstet wurde. Er wäre der kleine Vesa, der sich im Fahrradkeller in den Schlaf weinte, und Mutter hätte gemerkt, dass er fort war und wäre ihn suchen gekommen. Eine Mutter, die sich kümmerte, die liebende Mutter, die die weinende Frau in seinen Armen nie hatte sein können. Ihre Kraft hatte immer nur für sie selbst gereicht, für das Kind nicht mehr.
Vesa versuchte sich zum Weinen zu zwingen, aber seine Augen blieben so trocken, dass es wehtat. Dann fiel ihm ein, was er Mutter hatte sagen sollen. Die letzte Bitte seines Vaters. Vesa konnte sich nicht erinnern, dass Vater es je laut gesagt hätte. Ob er es sagte, wenn er nicht dabei war? Sollte er es nur nicht hören?
»Vater wollte, dass ich dir sage, dass er dich liebt.«
Viitasalo stand in Tuomistos Zimmer. Das Vergnügen hatte er einmal wöchentlich, seit der nasse Herbst unaufhaltsam in einen regnerischen Winter überging. Inzwischen liefen Viitasalos Besuche auf Widerstandsübungen am lebendigen Vorgesetzten hinaus.
»Für zwei Tage, und ich müsste dort übernachten? So schnell?«
»Wir sind Polizisten. Dass wir schnell handeln, zeichnet uns aus.«
»Hier ist aber nicht Not am Mann, sondern ich soll auf eine Tagung.«
Der Ordner lag zwischen ihnen auf dem Schreibtisch, genau da, wo Tuomisto ihn hingeworfen hatte.
»Hast du ein Problem mit Tagungen?«, fragte Tuomisto.
Viitasalo beherrschte sich, obwohl er innerlich kochte. »Da gehen doch bestimmt auch Kollegen aus irgendwelchen Ministerien und von der KRP hin, die uns hinterher berichten können, worum es ging.«
»Wir sind das Drogendezernat der Polizei der Hauptstadt. Was denkst du, wie es aussieht, wenn ausgerechnet wir unser Desinteresse an einer internationalen Tagung von Drogenexperten bekunden?«, sagte Tuomisto. »Und wenn die Teilnahme nur eine gute PR für uns wäre, müssten wir hin, die haben wir nämlich verdammt nötig.«
Viitasalo warf einen schnellen Blick auf den reichlich dicken Ordner. Project Millennium stand darauf.
»Was soll das heißen?«
»Bei der Tagung geht es um die Ergebnisse des Millennium-Projekts von Interpol. Sie haben die Wege der Drogen global verfolgt, von den Bauern in den Anbaugebieten über die Produzenten, Kuriere, Dealer und so weiter bis hinunter zu den Usern.«
»Statistiken von kurz nach der Jahrtausendwende«, seufzte Viitasalo. »Hör zu, ich will nicht. Schick von mir aus Kivi hin. Er hat keine Familie.«
»Kivis Sprachkenntnisse reichen nicht für eine internationale Tagung. Außerdem geht es um die Zahlen der Jahrtausendwende bis heute.«
»Trotzdem. Ich kann nicht aus dem Stand nach Stockholm, nur um mir das Geschwätz von irgendwelchen selbsternannten Experten anzuhören.«
»Doch, das kannst du«, sagte Tuomisto. »Du musst sogar. Im übrigen wäre das die Gelegenheit, deine Theorien von Finnland als dem neuen Durchgangsland für Heroin aus dem Osten auf den Prüfstand zu stellen. Ich hab dir für morgen früh einen Flug reservieren lassen. Am besten, du fängst gleich an, dich mit dem Inhalt des Ordners vertraut zu machen. Das wird auch eine gute Übung für dein Englisch. Wenn du zurückkommst, erstattest du mir Bericht. Eine ergiebige Reise wünsch ich dir.«
Viitasalo nahm den Ordner, verließ das Zimmer und einen
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