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In der Hitze der Nacht

In der Hitze der Nacht

Titel: In der Hitze der Nacht
Autoren: Ruth Gogoll
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ersten Mal sah Dagmar Tina wie eine Mutter an.
    Tina war überrascht. Einfühlungsvermögen war noch nie eine der hervorstechenden Eigenschaften ihrer Mutter gewesen. »Ich . . . Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte sie. »Vielleicht müssen wir uns nur wieder aneinander gewöhnen.«
    »Ich bin dir immer auf die Nerven gegangen«, sagte Dagmar und lehnte sich zurück. »Darauf wette ich. Du warst weg, kaum daß du achtzehn warst.«
    »Es gab keine Ausbildungsmöglichkeiten dort«, sagte Tina. »Keine Jobs. Keine Zukunftsperspektive.«
    »Und die brauchst du.« Dagmar musterte sie interessiert. »Ich habe das nie gebraucht.«
    »Ich weiß«, sagte Tina. »Ich mache dir ja auch keine Vorwürfe.«
    Dagmar lächelte leicht. »Du bist wie dein Vater. Ich hätte es wissen müssen.«
    »Ich kenne ihn nicht«, sagte Tina etwas bitter. »Also kann ich das nicht beurteilen.«
    »Er ist mittlerweile Professor«, sagte Dagmar. »Damals, als ich schwanger wurde, war er Doktorand und ich Studentin.«
    »Du hast mal studiert?« Tina erfuhr auf einmal Dinge über ihre Mutter, die sie nie für möglich gehalten hätte.
    »Ja«, sagte Dagmar. »Deine Großeltern hätten mir sonst den Scheck gesperrt. Und damals dachte ich noch, ich könnte ohne Geld nicht leben.«
    »Meine . . . Großeltern?« Tina hatte sie nie kennengelernt.
    »Auch ein Grund, warum ich gekommen bin«, sagte Dagmar. »Mein Vater, dein Großvater, ist gestorben.«
    Tina schluckte. Ihr Großvater war tot, und sie hatte ihn nicht ein einziges Mal in ihrem Leben gesehen.
    »Du mußt nicht bedauern, daß du ihn nie getroffen hast«, sagte Dagmar. »Er war ein furchtbarer Mann. Vor ihm bin ich geflohen. Er hatte mein Leben bis ins letzte vorgeplant. Inklusive einem Verlobten, den er ausgesucht hatte. Deshalb bin ich dann aus Trotz von einem anderen schwanger geworden. Daraufhin hat mich mein Verlobter sofort verlassen. Er fand, es wäre eine Schande. Genau wie mein Vater.« Sie schaute Tina an. »Als ich dich nach der Geburt im Arm hielt, wußte ich, daß er unrecht hatte. Wie konnte so ein süßes kleines Baby eine Schande sein?« Sie lächelte. »Du warst wirklich ein süßes Baby.«
    »Ähm . . .« Tina schluckte. Noch nie hatte ihre Mutter so mit ihr gesprochen.
    »Keine Angst.« Dagmar lachte. »Ich habe keine Babyphotos von dir, die dich jetzt in Verlegenheit bringen könnten. Nackt auf dem Bärenfell.«
    Tina mußte plötzlich auch lachen. »Wenn überhaupt, hättest du den Bären wahrscheinlich selbst erlegt gehabt.«
    »Du traust mir eine Menge zu«, sagte Dagmar. »Aber gut, du hast ja auch Grund dazu.«
    Tina schluckte erneut. »Tut mir leid«, sagte sie.
    »Dir muß gar nichts leid tun. Ich hätte mich mehr um dich kümmern sollen.« Dagmar schaute sie an. »Aber ich war selbst noch ein Kind. Ein von allen verlassenes Kind. Ich wollte dir das ersparen. Ich dachte, wenn du keine Familie hast, kannst du sie auch nicht verlieren.«
    Tina gab ein hohles Geräusch von sich. »Hättest du die Entscheidung nicht mir überlassen sollen?«
    »Hätte ich.« Dagmar schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber dazu hätte ich wissen müssen, wer ich bin. Ich hätte stärker sein müssen. Ich war immer zu schwach.« Sie lächelte leicht. »Du bist die stärkere von uns beiden. Ich bin immer noch auf der Suche. Du hast dich gefunden.«
    »Du meinst, die spießige Bürgerlichkeit paßt zu mir?« fragte Tina sarkastisch.
    »Du hast gegen mich rebelliert – so wie ich gegen meine Eltern. Vielleicht bist du nur deshalb so bürgerlich, weil ich so unbürgerlich bin«, sagte Dagmar. »Darüber solltest du tatsächlich einmal nachdenken.«
    »Ich habe ganz gern ein bißchen Stabilität«, gab Tina zu. »Morgens aufzuwachen und zu wissen, wo man abends schlafen wird, hat was.«
    »Ich habe dir zu viel zugemutet.« Dagmar betrachtete sie schuldbewußt. »Aber ich hoffe, du bist jetzt glücklich.«
    »Wenn du mir sagst, was das ist . . .«
    »Oje.« Dagmar hob die Augenbrauen. »Du bist nicht glücklich?«
    »Woran macht man das fest?« Tina schaute sie fragend an.
    »Diese Wohnung . . .« Dagmar blickte nachdenklich. »Bist du da tatsächlich immer nur allein?«
    »Nicht immer.« Tina räusperte sich.
    »Aber eine feste Beziehung hast du nicht.« Dagmar legte den Kopf leicht zur Seite. »Nicht ein einziges Anzeichen für einen Mann in deinem Badezimmer. Kein Rasierapparat, keine zweite Zahnbürste . . .«
    »Ich wußte gar nicht, daß du so gut beobachten
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