In der Hitze der Nacht
den Kopf. »Aber ich habe einfach zu viele Leute vor Gericht gesehen.«
»Wie gesehen?« Tina runzelte verständnislos die Stirn.
»Wenn sie im Zeugenstand sind. Aussagen machen. Wie sie dann aussehen. Vor allem, wenn sie lügen.« Mar verzog etwas skeptisch das Gesicht.
»Du unterstellst meiner Großmutter, daß sie lügt?« Tina stutzte irritiert.
»Auf jeden Fall, daß sie etwas verbirgt. Sie sagt nicht alles, was sie weiß.« Mar hob die Hände. »Meine Erfahrung.«
Tina lachte ungläubig auf. »Wie lange waren wir im Haus? Wie lange haben wir uns unterhalten?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe auch nicht alles gesagt, was ich weiß. Man kann doch nicht einfach so mit allem herausplatzen.«
»Du bist schüchtern«, entgegnete Mar. »Deine Großmutter ist das nicht.«
»Du kennst sie doch überhaupt nicht.« Tina zog unwillig die Augenbrauen zusammen. »Genausowenig wie mich. Woher willst du wissen, daß ich schüchtern bin?«
Ich weiß es, dachte Mar, aber sie wollte sich nicht mit Tina darüber streiten. »Ich wäre auf jeden Fall froh, wenn du ein bißchen vorsichtig an die Sache herangehen würdest«, sagte sie. »Das kann nie schaden.«
»Ich bin immer vorsichtig«, erwiderte Tina gereizt.
Mar hatte das Gefühl, Tinas Nerven waren bis zum äußersten gespannt. Sie wollte sie nicht noch mehr aufregen. »Ich könnte versuchen herauszufinden, wer euer Familienanwalt ist«, fuhr sie rasch fort, »und ihn nach dem Testament fragen.«
»Ich sagte doch, das interessiert mich nicht«, entgegnete Tina ärgerlich. »Deshalb bin ich nicht hier.«
»Dann habe ich mich wohl geirrt«, stellte Mar etwas verwirrt fest. »Ich dachte, deshalb hättest du mich mitgenommen. Um dich bei der juristischen Abwicklung zu unterstützen. Für ein reines Familientreffen hättest du mich nicht gebraucht.«
»Mar, bitte . . .« Tina blieb stehen. »Sei nicht eingeschnappt. Das alles ist einfach zu . . . überwältigend für mich.« Sie schaute Mar entschuldigend an. »Ich kann nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Erst einmal muß ich meine Familie kennenlernen. Dann sehen wir weiter.«
»Ich bin nicht eingeschnappt.« Mar lächelte. »Warum sollte ich? Es geht mir nur um dich. Um deine Sicherheit.«
»Du denkst, ich bin in Gefahr?« Tina lachte belustigt auf. »Das ist ja wohl ein Witz.«
»So etwas ist nie ein Witz«, erwiderte Mar. »Ich denke nicht, daß du in körperlicher Gefahr bist, aber ich denke, es kommen vielleicht Dinge auf dich zu, die du nicht erwartest, auf die du nicht vorbereitet bist.«
Erneut lachte Tina auf. »Darin habe ich Übung! Das Leben mit meiner Mutter war die beste Schule dafür.« Sie legte ihre Hand auf Mars Arm. »Ich danke dir für deine Besorgnis, aber ich bin erwachsen. Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
Die Wärme von Tinas Hand durchdrang den Stoff auf Mars Arm mit Leichtigkeit und ließ ihre Haut erglühen. So eine starke Reaktion hatte sie nicht erwartet. Sie zog ihren Arm schnell zurück. »Du bist immer noch Liane aus dem Urwald«, lächelte sie. »Denk daran. Sie kennen dich nicht und du kennst sie nicht.«
»Ich bin schon lange nicht mehr das Mädchen aus dem Urwald.« Tina seufzte. »Leider. Dann wäre das Leben einfacher.«
»Gut«, nickte Mar. »Du willst also nicht, daß ich herausfinde, was im Testament steht?«
»Das wollte ich noch nie.« Tina lächelte auch. »Du hast mich oft genug gefragt.«
»Es könnte längst alles klar sein.« Mar atmete tief durch. »Ich hasse es, Dinge so auf die lange Bank zu schieben, aber wenn du nicht willst . . .«
»Was könnte mein Großvater mir schon hinterlassen haben? Er kannte mich überhaupt nicht.« Tina lachte erneut belustigt auf. »Vielleicht eine dieser wunderschönen Figuren aus der Halle.«
»Deine Mutter hat von Geld gesprochen«, erinnerte Mar sie.
»Meine Mutter ist nicht die zuverlässigste Person, was Auskünfte anbelangt«, sagte Tina. »Glaub mir, das weiß ich besser als ich es mir wünsche.« Sie holte etwas resigniert tief Luft. »Ich möchte mich lieber nicht darauf verlassen, was sie gesagt hat.«
»Ganz wie du willst. Du bist die Mandantin. Ich kann nur das tun, wofür du mir einen Auftrag erteilst.« Es war offensichtlich, daß Mar diese Situation nicht gefiel.
»Sei nicht sauer auf mich.« Tina hakte sich ganz selbstverständlich bei ihr ein. »Ich bin nicht so draufgängerisch wie du. Ich brauche Zeit, um mir über die Dinge klarzuwerden. Ich möchte nicht mit Kanonen auf
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