In der Nacht (German Edition)
erkundigte sich umgehend nach dem werten Befinden und der Familie ihres Gegenübers. Nie vergaß sie einen Namen. Und obwohl ihre »Prüfungen«, wie sie jene leidvollen Erfahrungen nannte, sie vorzeitig hatten altern lassen, war sie nach wie vor eine bemerkenswert schöne Frau, schön auf eine spezifisch amerikanische Art und Weise – volle Lippen, so rot wie ihr burgunderfarbenes Haar, strahlend blaue Augen und eine Haut, so weich und weiß wie der Rahm auf frischer Milch.
Die Ohnmachtsanfälle setzten Ende des Jahres 1931 ein, nachdem die europäische Bankenkrise den Rest der Welt in ihren Strudel gerissen und alle verbliebenen Hoffnungen auf wirtschaftliche Erholung zunichte gemacht hatte. Die Anfälle waren nicht gespielt und kamen ohne Vorwarnung. Dann etwa, wenn sie gerade wieder einmal – stets mit leiser, leicht bebender Stimme – vor den Gefahren des Alkohols, der Lust oder (wie immer öfter in letzter Zeit) des Glücksspiels warnte, von den Visionen sprach, die Gott ihr gesandt hatte, Visionen eines Tampas, das an seinen eigenen Sünden zugrunde gegangen war, einer schwarzen Einöde, wo über verbrannter Erde und schwelenden Grundmauern Rauchfetzen trieben, ehe sie ihre Zuhörer an Lots Weib erinnerte, sie beschwor, sich nicht umzudrehen, nie zurückzuschauen, sondern den Blick in die Zukunft zu richten, wo eine strahlende Stadt mit weißen Häusern entstehen würde, bevölkert von weißen Menschen in weißen Kleidern, vereint im Gebet und ihrer Liebe zu Jesus Christus, beseelt von dem Wunsch, ihren Kindern eine Welt zu hinterlassen, auf die sie stolz sein konnten. Und irgendwann im Verlauf ihres Sermons verdrehte sie die Augen erst nach links, dann nach rechts, geriet ins Schwanken und stürzte zu Boden. Manchmal zuckten ihre Glieder, manchmal rann ein wenig Speichel über ihre wunderschönen Lippen, doch meist wirkte sie schlicht, als würde sie schlafen. Ein paar böse Zungen behaupteten, dass sich ihre Beliebtheit dem Umstand verdankte, wie entzückend sie aussah, wenn sie lang hingestreckt auf der Bühne lag, stets in eins ihrer dünnen weißen Kreppkleider gewandet, so dünn, dass man den einen oder anderen Blick auf ihre perfekt geformten Brüste und ihre schlanken, makellosen Beine erhaschen konnte. Sie war der Beweis für die Existenz Gottes, da nur Gott etwas so Schönes, Zerbrechliches und Überwältigendes erschaffen konnte.
Und so kam es, dass die stetig wachsende Anhängerschaft sich ihrer Worte annahm und sich auf einen lokalen Gangster einschwor, der es darauf abgesehen hatte, sie der Geißel des Glücksspiels auszusetzen. Und bald darauf wurden Joes Hintermänner von Kongressabgeordneten und Stadträten entweder mit Phrasen à la »Wir müssen die Optionen noch mal genauer prüfen« abgewimmelt oder gleich abschlägig beschieden, ganz abgesehen davon, dass Joe keinen Cent von dem Geld wiedersah, das in ihre Taschen gewandert war.
Allmählich wurde es eng.
Wenn Loretta Figgis plötzlich und unerwartet ums Leben kam – unter Umständen, die sich plausibel als Unfall ausweisen ließen –, würden sie das Ruder nach einer angemessenen Trauerperiode noch einmal herumreißen und die Kasino-Idee doch noch verwirklichen können. Und da sie Jesus ja so liebte, dachte Joe, würde er ihr nur einen Gefallen tun, wenn er die beiden schnellstmöglich zusammenführte.
Er wusste also, was zu tun war. Er musste nur noch den Auftrag erteilen.
Vorher jedoch wollte er das Wunder mit eigenen Augen sehen. Er rasierte sich einen Tag lang nicht und kleidete sich wie jemand, der landwirtschaftliche Geräte verkaufte oder auch eine Futtermittelhandlung betrieb – saubere Latzhose, weißes Hemd, Krawatte, dunkle Leinenjacke und dazu einen Strohhut, den er sich tief in die Stirn zog. Sal setzte ihn unweit des Platzes ab, den Reverend Ingalls für diesen Abend ausgesucht hatte; dann ging Joe einen schmalen, von Kiefern gesäumten Pfad hinunter, und kurz darauf hatte er den Rand der Menge erreicht.
Am Ufer eines Teichs hatte man eine kleine Bühne aus Holzkisten errichtet, und dort stand Loretta, flankiert von ihrem Vater und dem Reverend, die ihr mit gesenktem Kopf lauschten. Loretta sprach gerade von einer Vision oder einem Traum (was es nun genau war, hatte Joe nicht mitbekommen). Den dunklen Teich im Rücken, hob sie sich mit ihrem weißen Kleid und dem weißen Schutenhut gegen das schwarze Firmament ab, so unübersehbar wie ein mitternächtlicher Mond an einem Himmel ohne Sterne. Sie erzählte von
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