In der Nacht (German Edition)
ab, noch bevor man ein Wort über die Lippen gebracht hatte.
»Loretta«, sagte Joe. »Ich verkaufe etwas, das sich so großer Beliebtheit erfreut, dass der 18. Zusatzartikel innerhalb der nächsten zwölf Monate außer Kraft treten wird.«
»Niemals«, presste Irv hervor.
»Das werden wir ja sehen«, sagte Joe. »So oder so, die Prohibition ist Geschichte. Sie wurde ins Leben gerufen, um die Armen an der Kandare zu halten und die Mittelklasse zur Arbeit anzuhalten, aber stattdessen hat sie die Mittelklasse nur auf den Geschmack gebracht. In den letzten zehn Jahren ist mehr Alkohol durch amerikanische Kehlen geflossen als je zuvor, und zwar deshalb, weil die Leute es wollten und keine Lust hatten, es sich verbieten zu lassen.«
»Genauso wenig, Mr. Coughlin«, wandte Loretta nüchtern ein, »wollen sich die Leute verbieten lassen, Unzucht zu treiben.«
»Wozu auch?«
»Pardon?«
»Wozu auch?«, wiederholte Joe. »Ich sehe jedenfalls keinen triftigen Grund, sie davon abzuhalten, Miss Figgis.«
»Und wenn sie mit Tieren verkehren wollen?«
»Wollen sie das denn?«
»Manche schon. Und Sie sorgen mit Ihren Geschäften dafür, dass sich diese Seuche weiter ausbreitet.«
»Tut mir leid, aber ich kann keinerlei Zusammenhang zwischen Alkoholgenuss und Unzucht mit Tieren erkennen.«
»Was nicht bedeutet, dass es keinen Zusammenhang gibt.«
Nun setzte sie sich doch, die Hände im Schoß gefaltet.
»Doch«, erwiderte Joe. »Genau das habe ich ja gerade gesagt.«
»Aber das ist nichts weiter als Ihre Meinung.«
»Mit demselben Recht könnte man Ihren Glauben an Gott in Frage stellen.«
»Sie glauben also nicht an Gott, Mr. Coughlin?«
»Nein, Loretta, ich glaube nicht an Ihren Gott.«
Joe sah zu Irv, weil er spürte, dass der Mann vor Wut kochte, doch wie stets weigerte sich Irv, seinem Blick zu begegnen, stierte ohne Unterlass zu Boden, während er seine Hände zu Fäusten ballte.
»Wie auch immer, Gott glaubt an Sie«, sagte Loretta. »Mr. Coughlin, Sie werden vom Pfad des Bösen abkehren. Ich weiß es einfach. Ich kann es Ihnen ansehen. Sie werden Buße tun, in Jesus Christus wiedergeboren werden und selbst sein Wort verkünden. Ich sehe es so deutlich vor mir wie eine Stadt ohne Sünde, die sich hoch oben auf dem Hügel erhebt. Und Sie können sich Ihre Witze sparen, Mr. Coughlin – mir ist durchaus bewusst, dass es in Tampa keine Hügel gibt.«
»Wo Sie’s grad sagen.«
Diesmal war ihr Lächeln echt, und einen Moment lang sah er wieder das Mädchen vor sich, das ihm Jahre zuvor gelegentlich in der Eisdiele oder in der Zeitschriftenabteilung von Morins Drugstore begegnet war.
Doch dann verwandelte es sich wieder in jene traurige, gleichsam eingefrorene Maske. Ihre Augen glänzten, und sie streckte die Hand über den Schreibtisch. Während er sie schüttelte, musste er unwillkürlich an die Einstichspuren denken, die sich unter ihrem langen Handschuh verbargen. »Der Tag wird kommen, an dem ich Sie auf den Pfad der Tugend führe, Mr. Coughlin. Da habe ich nicht den geringsten Zweifel. Ich fühle es in meinem tiefsten Innern.«
»Aber deswegen muss es noch lange nicht so kommen«, sagte Joe.
»Dennoch besteht die Möglichkeit.«
»Möglich ist alles.« Joe sah sie an. »Warum können Sie meinen Ansichten nicht mit derselben Toleranz begegnen?«
Lorettas Miene hellte sich auf. »Weil sie falsch sind.«
Zu Joes und Estebans Leidwesen wurde Loretta mit wachsender Popularität immer mehr auch zu einer moralischen Instanz, und ein paar Monate später begannen ihre Missionierungstätigkeiten, den Kasino-Deal zu gefährden. Anfangs hatten sich viele Leute noch über sie lustig gemacht oder sich über ihre seltsame Wandlung gewundert – die Bilderbuch-Tochter eines Polizeichefs geht nach Hollywood und kehrt als übergeschnappte Betschwester zurück, noch dazu mit Narben an den Armen, die ein paar Einfaltspinsel mit Wundmalen verwechselten. Doch nach und nach verstummten die Spötter, zum einen, weil immer mehr Leute auf die Straßen strömten, ja, sie regelrecht verstopften, sobald sich in der Stadt verbreitete, dass Loretta bei einem Erweckungsgottesdienst sprechen würde, und zum anderen, weil sie ihr immer häufiger in der Öffentlichkeit begegneten. Nicht nur in Hyde Park, sondern auch in West Tampa, am Hafen und in Ybor, wo sie zuweilen Kaffee kaufte – das einzige Laster, von dem sie nicht lassen konnte.
Religiöse Dinge ließ sie tagsüber außen vor. Sie war stets höflich,
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