In der Nacht (German Edition)
war. Zwar kenne sie den Willen Gottes nicht, doch wisse sie um Christi bittere Enttäuschung angesichts dessen, was aus seinen Kindern geworden war. Man könne so viel Gutes ernten auf dieser Welt, wenn man denn Gutes säen würde.
»Überall hört man, dass unser Land bald wieder dem zügellosen Alkoholkonsum verfallen wird. Stellt es euch nur vor: betrunkene Ehemänner, die ihre Frauen schlagen, Geschlechtskrankheiten nach Hause schleppen, sich dem Müßiggang ergeben und ihre Arbeit verlieren, was wiederum dazu führen wird, dass noch mehr kleine Leute von den Banken auf die Straße gesetzt werden. Aber schuld sind nicht die Banken, nein, ganz und gar nicht«, flüsterte sie. »Die Schuld liegt bei denen, die aus der Sünde Profit schlagen, die Trunksucht fördern und so der Hurerei Vorschub leisten. Die Schuld liegt bei den Schwarzbrennern und Bordellbetreibern und all jenen, die es ihnen gestatten, unsere schöne Stadt mit Schmutz und Unflat zu überziehen. Betet für sie. Und dann fragt Gott um Rat, was ihr unternehmen sollt.«
Und offenbar hatte Gott einigen aufrechten Bürgern Tampas geraten, ein paar von Joe und Esteban betriebene Bars zu überfallen und mit Äxten auf die Rum- und Bierfässer loszugehen. Als Joe davon erfuhr, ließ er Dion bei einem Händler in Valrico ein paar Dutzend Stahlfässer besorgen: Diese schafften sie in ihre Clubs, verstauten sie in den Holzfässern und warteten in aller Ruhe ab, wer sich als Erster seinen gottesfürchtigen Unterarm brechen würde.
Joe saß gerade im Büro seiner Zigarrenexportfirma – einem ganz und gar legalen Unternehmen, das ihnen jedes Jahr reichlich Miese einbrachte, da sich exquisite Zigarren auf dem indischen, schwedischen oder französischen Markt einfach nicht durchsetzen ließen –, als Irv und seine Tochter zur Tür hereinkamen.
Irv nickte Joe kurz zu, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. Seit Joe ihm damals jene Bilder von seiner Tochter gezeigt hatte, war er seinem Blick stets ausgewichen, obwohl sie sich dutzende Male auf der Straße begegnet waren.
»Meine Loretta würde gern kurz mit Ihnen sprechen.«
Joe richtete den Blick auf die junge, ganz in Weiß gekleidete Frau, sah ihr in die feucht schimmernden Augen. »Gern, Ma’am. Setzen Sie sich doch.«
»Ich bleibe lieber stehen, Sir.«
»Wie Sie wollen.«
»Mr. Coughlin.« Sie verschränkte die Hände vor ihrem Unterleib. »Mein Vater sagt, einst habe ein guter Kerl in Ihnen gesteckt.«
»Ich wüsste nicht, dass er sich mittlerweile verabschiedet hat.«
Loretta räusperte sich. »Uns ist bekannt, dass Sie Gutes tun. So wie auch die Frau, mit der Sie in wilder Ehe leben.«
»Die Frau, mit der ich in wilder Ehe lebe«, wiederholte Joe, nur um sich das mal in Ruhe auf der Zunge zergehen zu lassen.
»Ja, genau. Wir sind uns darüber im Klaren, wie sehr sie sich für Notleidende und Bedürftige engagiert.«
»Sie hat einen Namen.«
»Aber die guten Taten dieser Frau beschränken sich rein auf das Diesseits. Sie verweigert jede Zusammenarbeit mit religiösen Glaubensgemeinschaften und ist nicht bereit, sich zu unserem Herrn zu bekennen.«
»Sie heißt Graciela«, erwiderte Joe. »Übrigens ist sie katholisch.«
»Solange sie nicht öffentlich bekennt, dass ihr der Herr die Hand führt, steht sie im Dienste Satans, egal, wie ehrenwert ihre Absichten auch sein mögen.«
»Da kann ich Ihnen leider nicht ganz folgen«, sagte Joe.
»Aber ich bin ganz bei Ihnen«, gab sie zurück. »Und Ihnen ist ebenso klar wie mir, Mr. Coughlin, dass Ihre guten Taten nichts als Schall und Rauch sind, wenn Sie weiter diesem gottlosen Treiben nachgehen.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Sie profitieren von der Sucht anderer Menschen. Sie profitieren von ihren Schwächen, von ihrem unstillbaren Verlangen nach Müßiggang, Völlerei und den Sünden des Fleisches.« Sie bedachte ihn mit einem mitleidigen Lächeln. »Es liegt an Ihnen, sich davon zu befreien.«
»Das will ich aber gar nicht.«
»Oh doch.«
»Miss Loretta«, sagte Joe, »Sie scheinen mir eine überaus reizende Person zu sein. Und wie ich gehört habe, hat sich die Gemeinde von Reverend Ingalls verdreifacht, seit Sie vor seinen Schäfchen predigen.«
Irv hielt fünf Finger in die Höhe, ohne vom Boden aufzusehen.
»Oh«, sagte Joe. »Sogar verfünffacht. Mein lieber Schwan.«
Die ganze Zeit über lag ein Lächeln auf Lorettas Lippen. Es war sanft und traurig, schien bereits zu wissen, was man sagen wollte, und winkte gleichsam
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