In der Nacht (German Edition)
Jahren hätte er sich keinen paradiesischeren Zustand vorstellen können – ihre wunderbare Vertrautheit, ihre Stimme in seinen Ohren, ihren Fuß an seiner Schulter.
»Wir könnten so viel Gutes tun«, sagte sie.
»Tun wir doch auch«, sagte er.
»Es passiert schon genug Schlechtes auf der Welt.«
Sie blickte in den Seifenschaum, schien sich einen Moment in ihren Gedanken zu verlieren.
»Hey«, sagte er.
Sie hob die Lider.
»Wir sind keine schlechten Menschen. Na schön, vielleicht sind wir auch nicht gut. Ich weiß es nicht genau. Sicher weiß ich nur, dass uns allen die Muffe geht.«
»Wer?«, fragte sie.
»Na, alle. Die ganze Welt. Wir klammern uns an unsere Vorstellung von diesem oder jenem Gott, von diesem oder jenem Leben nach dem Tod, aber gleichzeitig fragen wir uns die ganze Zeit: ›Was, wenn wir uns bloß in die Tasche lügen? Was, wenn das hier alles ist? Tja, Teufel auch, vielleicht ist es doch besser, eine Riesenvilla zu besitzen, eine Luxuskarosse, jede Menge Krawattennadeln, einen Spazierstock mit Perlmuttgriff und…«
Sie lachte.
»…eine Toilette, mit der man sich gleichzeitig Hintern und Achselhöhlen waschen kann.‹ Also mal ganz ehrlich, so was braucht man doch einfach.« Jetzt begann er ebenfalls zu kichern, doch seine leisen Lacher verebbten schnell. »›Aber natürlich glaube ich auch an Gott. Nur um sicherzugehen. Und an die Gier. Nur um ganz sicherzugehen.‹«
»Und das erklärt alles? Dass wir von Angst getrieben werden?«
»Keine Ahnung, was es erklärt«, sagte er. »Ich weiß nur, dass uns allen die Muffe geht.«
Der Badeschaum legte sich wie ein Schal um ihren Hals, als sie sich ein wenig tiefer in die Wanne sinken ließ. »Ich möchte etwas für andere tun. Ich will nicht umsonst gelebt haben.«
»Okay, du willst also diesen Frauen und ihren Kindern helfen. Prima Idee, und ich liebe dich dafür. Aber dir ist hoffentlich klar, dass das einigen miesen Typen nicht in den Kram passen wird.«
»Sonnenklar«, sagte sie mit einer Singsangstimme, mit der sie ihm zu verstehen gab, dass sie bereits alles bedacht hatte. »Und deshalb brauche ich ein paar von deinen Leuten.«
»Wie viele?«
»Vier für den Anfang, mi amado .« Sie lächelte. »Und zwar die härtesten Jungs, die du zu bieten hast.«
Im selben Jahr kehrte Chief Irving Figgis’ Tochter Loretta nach Tampa zurück.
Begleitet von ihrem Vater, stieg sie aus dem Zug. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, wirkte Loretta, als befände sie sich in tiefer Trauer.
Irv schloss sie in seinem Haus in Hyde Park ein, und für den Rest des Sommers bekam beide niemand mehr zu Gesicht. Bevor er nach L.A. gereist war, hatte Irv sich beurlauben lassen, und nach seiner Rückkehr verlängerte er seine Freistellung vom Polizeidienst bis in den Herbst. Seine Frau zog aus und nahm Lorettas jüngeren Bruder mit sich, und die Nachbarn berichteten, dass aus dem Haus nichts als Gebete zu vernehmen waren. Oder fromme Gesänge. Genaueres wussten sie aber nicht.
Als sie an einem Tag Ende Oktober dann doch an die Öffentlichkeit traten, trug Loretta Weiß. Während einer Versammlung der Pfingstgemeinde, die am Abend in einem großen Zelt in Fiddlers Cove stattfand, gab sie bekannt, dass nicht sie die Wahl ihrer Kleidung getroffen hatte, sondern der Herr Jesus Christus höchstselbst, dessen Lehren sie fortan unter den Gläubigen verbreiten würde. Von der Bühne herab sprach sie von den Dämonen Alkohol, Heroin und Marihuana, die sie in den Pfuhl des Lasters gestürzt hatten, von Wollust, Unzucht und dem unausweichlichen Abstieg in die Prostitution, von noch mehr Heroin und Nächten von so unaussprechlicher Verkommenheit, dass Jesus ihre Erinnerung daran ausgelöscht hatte, um zu verhindern, dass sie sich das Leben nahm. Und warum hatte er es verhindert? Damit sie den Sündern in Tampa, St. Petersburg, Sarasota und Bradenton seine – Gottes – Wahrheit offenbarte. Und wenn es sein Wille war, würde sie seine Botschaft überall in Florida, ja, in ganz Amerika verkünden.
Was Loretta von so vielen anderen religiösen Eiferern in den Erweckungskirchen unterschied, war der Umstand, dass sie nicht mit donnernder Stimme Hölle und ewige Verdammnis heraufbeschwor. Tatsächlich sprach sie so leise, dass viele Zuhörer sich vorbeugen und die Ohren spitzen mussten. Während sie gelegentlich zu ihrem Vater hinübersah, der ihrer Rede mit strenger, unnahbarer Miene folgte, legte sie Zeugnis ab von einer Welt, die der Sünde anheimgefallen
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