In der Nacht (German Edition)
einer dreiköpfigen Familie – Vater, Mutter und ein noch ganz kleines Baby –, die in einem fernen Land angekommen war. Der Vater war von seiner Firma, die ihn dorthin geschickt hatte, angewiesen worden, den Bahnhof auf keinen Fall zu verlassen, ehe der Chauffeur eingetroffen war, der sie abholen würde. Doch in der Bahnhofshalle war es brütend heiß, sie hatten eine lange Fahrt hinter sich und waren neugierig auf das neue Land. Und so begaben sie sich doch nach draußen, wo sie sofort von einem Tier angefallen wurden, einem Panther, so schwarz wie das Innere eines Kohleneimers. Und ehe die Leute wussten, wie ihnen geschah, hatte ihnen die Bestie die Kehlen aufgerissen. Sterbend musste der Vater mitansehen, wie das Tier sich am Blut seiner Ehefrau gütlich tat, als plötzlich ein anderer Mann auftauchte und den schwarzen Panther erschoss. Es war der Chauffeur, den die Firma für die Familie abgestellt hatte. Sie hätten einfach nur auf ihn warten müssen.
Aber sie hatten nicht gewartet. Warum nur hatten sie nicht gewartet?
»Und genauso ist es mit Jesus«, sagte Loretta. »Könnt ihr warten? Könnt ihr den irdischen Versuchungen widerstehen, die das Wohl eurer Familien bedrohen? Seid ihr in der Lage, eure Lieben vor den Raubtieren um euch herum zu schützen, bis unser Herr und Erlöser zurückkehrt?
Oder seid ihr zu schwach?«, fragte sie.
»Nein!«
»Weil ich selbst weiß, wie schwach ich in schweren Stunden bin.«
»Nein!«
»Ja, ich bin schwach«, rief Loretta. »Aber er gibt mir Kraft!« Sie deutete gen Himmel. »Er lebt in meinem Herzen. Aber ich brauche euch, um seinen Willen erfüllen zu können. Ich brauche eure Kraft, um weiter sein Wort verkünden zu können, sein Werk zu vollbringen und die schwarzen Panther daran zu hindern, unsere Kinder zu fressen und unsere Seelen mit ewiger Sünde zu beflecken. Wollt ihr mir helfen?«
Die Menge antwortete mit Ja , Amen und O ja . Als Loretta die Lider schloss, drängten die Umstehenden mit aufgerissenen Augen zur Bühne. Als Loretta seufzte, drang kollektives Stöhnen aus ihren Kehlen, als sie auf die Knie fiel, begannen sie zu keuchen, und als sie auf der Bühne lag, atmeten alle wie aus einem Mund aus. Sie reckten die Hände nach ihr, ohne noch weiter zur Bühne vorzurücken, als befände sich dort eine unsichtbare Barriere. Sie streckten die Hände aus nach etwas, das jenseits von Loretta existierte. Riefen es an. Gelobten ihm Gehorsam und ewige Gefolgschaft.
Loretta war das Tor zu jener Macht, die Pforte, durch die ihre Anhänger eine Welt ohne Sünde, Dunkelheit und Furcht betraten. Eine Welt, in der man nie allein war. Sondern bei Gott. Und Loretta.
»Die Kleine muss weg.« Dion stand Joe auf der Galerie in der zweiten Etage seines Hauses gegenüber. »Und zwar am besten noch heute Abend.«
»Meinst du, ich hätte mir darüber noch keine Gedanken gemacht?«, sagte Joe.
»Nachdenken nützt nichts, Boss«, sagte Dion. »Wir müssen handeln.«
Einen Moment lang stellte sich Joe das Ritz vor, das Licht, das durch die Fenster fiel und den dunklen Ozean erhellte, die Musik, die durch die Säulengänge perlte und auf den Golf hinauswehte, das Geräusch der Würfel auf den Tischen, die Gäste, die gerade einen Gewinner bejubelten, während er selbst in Frack und Zylinder über das Geschehen wachte.
Wie so oft in den vergangenen Wochen fragte er sich: Was ist schon ein Leben?
Im Baugewerbe starben schließlich auch dauernd Menschen, beim Errichten von Wolkenkratzern ebenso wie beim Bau einer neuen Schienenstrecke. Sie kamen durch Stromschläge ums Leben, fielen allen möglichen Arbeitsunfällen zum Opfer, jeden beliebigen Tag auf der ganzen Welt. Und wofür? Für das Wohl der Allgemeinheit, für Arbeitsplätze und warme Mahlzeiten auf den Tellern.
Inwiefern würde Lorettas Tod da eine Ausnahme machen?
»Darum«, sagte er leise.
Dion runzelte die Stirn. »Was?«
Entschuldigend hob Joe eine Hand. »Ich bringe das nicht fertig.«
»Ich schon«, erwiderte Dion.
»Wenn man sich auf so etwas einlässt wie wir«, sagte Joe, »sollte man sich der Konsequenzen bewusst sein. Aber die Leute da draußen, die ihrer Arbeit nachgehen, ihren Rasen mähen und längst schlafen, wenn wir unsere Geschäfte abwickeln, haben nicht die Fahrkarte für den Nachtzug gekauft. Und deshalb können für ihre Fehler nicht die gleichen Maßstäbe gelten.«
Dion gab einen tiefen Seufzer von sich. »Sie macht uns den ganzen verdammten Deal kaputt.«
»Ich weiß.« Joe war
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