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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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trat.
    »Wir sehen uns«, sagte Dover zu ihm und nickte Loretta zu. »Ma’am.«
    Dann waren Joe und Loretta allein. Einen Moment lang war nur der Regen der letzten Nacht zu hören, der von der Balkontraufe auf die Straße tropfte. Joe betrachtete Loretta, während er an seinem Kaffee nippte. Nichts war mehr zu sehen vom strahlenden Leuchten, das ihren Augen stets innegewohnt hatte, seit sie zwei Jahre zuvor im weißen Gewand ihrer Wiedergeburt aus dem Haus ihres Vaters getreten war.
    »Warum hasst mein Vater Sie so sehr?«
    »Weil ich ein Krimineller bin. Schließlich war er ja früher Polizeichef.«
    »Aber damals mochte er Sie. Ich weiß noch, wie er Sie mir einmal auf der Straße gezeigt und gesagt hat: ›Das ist der Bürgermeister von Ybor. Ohne ihn ginge hier alles drunter und drüber.‹«
    »Das hat er wirklich gesagt?«
    »Ehrenwort.«
    Joe trank noch einen Schluck Kaffee. »Tja, damals waren die Fronten eben noch nicht so verhärtet.«
    Sie nahm ebenfalls einen Schluck. »Und womit haben Sie sich seinen Groll zugezogen? Was haben Sie sich zuschulden kommen lassen?«
    Joe schüttelte den Kopf.
    Nun fasste sie ihn genau ins Auge, musterte ihn eine volle unangenehme Minute lang. Er hielt ihrem Blick stand, während sie in seinen Augen forschte – so lange, bis es ihr urplötzlich zu dämmern schien.
    »Sie haben es ihm gesagt. Wo er mich finden kann.«
    Joe schwieg und presste unwillkürlich die Kiefer zusammen.
    »Sie waren das.« Sie nickte und schlug die Augen nieder. »Was wussten Sie? Was haben Sie ihm verraten? Was hatten Sie in der Hand?«
    Sie hob den Blick und starrte ihn an, bis er endlich antwortete.
    »Fotografien.«
    »Und die haben Sie meinem Vater gezeigt.«
    »Nur zwei.«
    »Von wie vielen?«
    »Es waren Dutzende.«
    Wieder blickte sie auf den Tisch, spielte gedankenverloren mit ihrer Tasse. »Wir werden alle zur Hölle fahren.«
    »Wohl kaum.«
    »Nein?« Abermals wanderten ihre Finger zu ihrer Tasse. »Wissen Sie, was mir in den letzten zwei Jahren klargeworden ist, während ich predige und meine Seele ganz dem Herrn überantworte, damit er aus mir sprechen kann?«
     Er schüttelte den Kopf.
    »Dass das hier« – sie deutete hinaus auf die Straße, beschrieb einen Bogen mit dem ausgestreckten Arm – »der Himmel ist.«
    »Und warum kommt er uns dann wie die Hölle vor?«
    »Weil wir es kaputtgemacht haben.« Ihr beseeltes Lächeln kehrte zurück. »Das hier ist das Paradies. Und wir haben es verloren.«
    Joe war überrascht, wie traurig es ihn stimmte, dass sie vom Glauben abgefallen war. Aus unerfindlichen Gründen hatte er insgeheim gehofft, dass Loretta tatsächlich einen direkten Draht zum Allmächtigen hatte.
    »Aber anfangs haben Sie doch geglaubt, nicht wahr?«, fragte er.
    Mit klarem Blick sah sie ihn an. »Mit einer solchen Gewissheit, dass nur noch ein Funke göttlicher Inspiration nötig war. Es hat sich angefühlt, als würde plötzlich Feuer statt Blut durch meine Adern fließen. Aber kein brennendes Feuer, sondern eine beständige Wärme, die nie nachließ. So habe ich mich auch als Kind gefühlt, glaube ich. Beschützt, geliebt und hundertprozentig sicher, dass sich das nie ändern würde – ich war felsenfest davon überzeugt, dass die ganze weite Welt wie Tampa aussah, dass Daddy und Mommy nie von meiner Seite weichen und alle Menschen immer nett zu mir sein würden. Tja, und dann, als ich mein Glück in L.A. versucht habe, als sich herausstellte, dass all meine Glaubenssätze nichts als Lügen waren? Als mir klarwurde, dass ich mich auf niemanden verlassen konnte?« Sie hielt ihm ihre vernarbten Unterarme hin. »Ich bin einfach nicht damit fertig geworden.«
    »Aber als Sie nach Tampa zurückgekehrt sind, nach Ihren…«
    »Prüfungen?«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Mein Vater hat mich halb totgeprügelt, und nachdem meine Mutter mehr oder weniger aus unserem Haus geflohen war, hat er mich gelehrt, wieder auf meinen Knien zu beten, als Bittstellerin, als Sünderin, ohne mir einen persönlichen Vorteil davon zu erhoffen. Und plötzlich war die Flamme da, während ich vor meinem Bett kniete, dem Bett, in dem ich als Kind geschlafen hatte. Ich hatte den ganzen Tag auf den Knien verbracht, die ganze Woche kaum geschlafen, und mit einem Mal spürte ich wieder das Feuer in meinem Blut, in meinem Herzen, und endlich fühlte ich mich wieder sicher . Können Sie sich vorstellen, wie sehr mir das gefehlt hatte? Mehr als jede Droge, jede Liebe, vielleicht sogar mehr als der Gott, der

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