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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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den vergangenen drei Jahren gealtert war. Auch trug er weder einen seiner cremefarbenen Anzüge noch Fünfzig-Dollar-Gamaschen. Seine Schuhe waren nur wenig besser als die Papptreter, in denen all die Menschen herumliefen, die mittlerweile auf der Straße oder in Zelten lebten. Die Aufschläge seines braunen Anzugs waren ausgefranst, der Stoff an den Ellbogen fadenscheinig. Sein Haarschnitt sah aus, als hätte sich seine Frau mit der Gartenschere an ihm vergangen.
    Dann fiel Joe auf, dass er Sal Ursos Maschinenpistole in der Rechten hielt. Joe erkannte die Waffe sofort, weil Sal die Angewohnheit hatte, mit der linken Hand gedankenverloren über den Verschluss zu streichen, wenn er irgendwo saß und die Thompson im Schoß hielt. Obwohl seine Frau 1923 an Typhus gestorben war, trug er immer noch seinen Ehering, der mittlerweile Tausende von Malen über das Metall des MP -Verschlusses geschrappt sein musste – von der Bläuung des Stahls war kaum noch etwas übrig.
    Albert legte den Lauf der Thompson an die Schulter, während er zu Joe trat und dessen teuren Dreiteiler in Augenschein nahm.
    »Anderson & Sheppard?«, fragte er.
    »H. Huntsman«, sagte Joe.
    Albert nickte. Er schlug die Innenseite seines Jacketts auf, so dass Joe das Etikett sehen konnte. Kresge’s. Stangenware. »Seit meinem letzten Besuch hier war mir das Glück nicht sehr gewogen.«
    Joe schwieg. Es gab nichts zu sagen.
    »In Boston stand mir das Wasser bis zum Hals. Es hätte nicht mehr viel gefehlt, und ich hätte mit einer Blechbüchse an der Straßenecke gestanden. Ich musste mit Bleistiften hausieren gehen, Joe. Aber dann ist mir in einer Kellerkneipe im North End zufällig Beppe Nunnaro über den Weg gelaufen, ein alter Freund von früher, noch aus der Zeit vor all den bedauerlichen Unstimmigkeiten zwischen mir und Mr.   Pescatore. Nun ja, jedenfalls haben wir uns ein bisschen unterhalten, und irgendwie kamen wir auf Dion. Beppe hat nämlich früher als Zeitungsjunge mit Dion und Paolo zusammengearbeitet. Hast du das gewusst?«
    Joe nickte.
    »Dann ist dir wahrscheinlich bereits klar, worauf ich hinauswill. Wie auch immer, Beppe meinte, Paolo und er wären dicke Freunde gewesen, und er könne sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Paolo jemanden verpfiffen hätte, schon gar nicht seinen eigenen Bruder und den Sohn eines Polizeicaptains.« Albert legte Joe den Arm um die Schultern. »Worauf ich sagte: ›Paolo hat niemanden aufs Kreuz gelegt. Sondern Dion. Und das weiß ich, weil die Ratte mir die Sache mit dem Banküberfall gesteckt hat.‹« Mit Joe im Arm trat Albert an das Fenster, das auf die Gasse und Horace Porters ehemaligen Klavierbaubetrieb hinausging. »Jedenfalls hat mir Beppe geraten, darüber doch mal mit Mr.   Pescatore zu reden.« Albert blieb vor dem Fenster stehen. »Aber kommen wir zur Sache. Los, Pfoten hoch.«
    Albert filzte ihn, während Maso und Digger zu ihnen traten. Er nahm Joe die 32er Savage ab, die hinten in seinem Gürtel steckte, zog den Derringer aus Joes rechtem Sockenhalter und förderte das Springmesser aus seinem linken Schuh zutage.
    »Sonst noch was?«, fragte Albert.
    »Kriegst du den Hals mal wieder nicht voll?«, sagte Joe.
    »Immer einen lockeren Spruch auf den Lippen.« Albert klopfte Joe auf die Schulter. »Bis zum bitteren Ende.«
    »Übrigens, Joe«, sagte Maso. »Da gibt es etwas, was du nicht vergessen solltest…«
    »Was?«
    Maso zog eine Augenbraue hoch. »Mr.   White ist mit den Gegebenheiten in Tampa bestens vertraut.«
    »Womit du hier überflüssig bist«, sagte Digger. »Klugscheißer.«
    »Ich muss doch sehr bitten«, sagte Maso.
    Sie wandten sich alle wieder zum Fenster, wirkten einen Moment lang wie Kinder, die darauf warteten, dass der Vorhang des Puppentheaters endlich aufging.
    Albert hielt Joe die Thompson vors Gesicht. »Liegt gut in der Hand. Ich habe gehört, du kennst den Besitzer?«
    »Ja.« Joe hatte einen Kloß im Hals. »Ich kenne ihn.«
    Im nächsten Moment drang ein lauter Schrei an Joes Ohren, und er sah einen Schatten über die gegenüberliegende Hauswand huschen. Nur einen Sekundenbruchteil später erblickte er Sal, der wild mit den Armen ruderte, während er an ihrem Fenster vorbeisegelte. Doch dann endete sein Sturz mitten in der Luft, und seine Knie wurden bis an sein Kinn hochgerissen, als sich die Schlinge jählings um seinen Hals zuzog. Sein Körper prallte zweimal gegen die Wand, pendelte zurück und drehte sich am Seil um die eigene Achse. Vermutlich

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