Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
Vom Netzwerk:
reflektierte ein grelles Gleißen, das überall war, alles beherrschte, das Grau, die Wolken, das Meer, gleichsam darin lebte, ohne dass sich sein Ursprung genau ausmachen ließ.
    Als Joe sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, erblickte er zuallererst die Uhr seines Vaters, die vor seinen Augen baumelte. Dann erkannte er Albert Whites Gesicht. Mit großer Geste ließ er die Uhr in seiner Westentasche verschwinden. »Bis jetzt musste ich mit einer Elgin vorliebnehmen«, sagte er und beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. Ein blasiertes Lächeln umspielte seine Lippen. Hinter ihm schleppten zwei Männer etwas Schweres heran. Etwas aus schwarzem Metall, an dem sich silberfarbene Griffe befanden. Mit einer Verbeugung, die einem Zirkusdirektor alle Ehre gemacht hätte, trat Albert einen Schritt zurück, während die Männer den schweren Behälter unter Joes nackte Füße schoben.
    Es war eine Wanne. Eine von der Sorte, in denen auf Sommerfesten oder Cocktailpartys Weißwein- und Bierflaschen mit Eis gekühlt wurden. Nur, dass sich in der Wanne kein Eis befand. Geschweige denn Wein oder ein schönes Bier.
    Nur Zement.
    Mit aller Macht bäumte sich Joe auf und zerrte an seinen Fesseln, doch genauso gut hätte er versuchen können, ein Backsteingebäude aus seinem Fundament zu reißen.
    Albert trat hinter ihn, kippte den Stuhl nach vorn, und im selben Moment versank Joe auch schon bis zu den Unterschenkeln im feuchten Zement.
    Mit der distanzierten Neugier eines Wissenschaftlers verfolgte Albert, wie Joe vergeblich Widerstand leistete. Der einzige Körperteil, den er bewegen konnte, war sein Kopf. Der Zement war anscheinend schon vor einer Weile angerührt worden – Joes Füße versanken in der steifen Brühe wie in einem feuchten Schwamm.
    Albert ging vor ihm in die Hocke und sah Joe in die Augen, während der Zement allmählich auszuhärten begann. Hatte Joe eben noch das Gefühl gehabt, in einem Schwamm zu stecken, spürte er nun, wie die zähe Masse unter seinen Fußsohlen erstarrte und sich wie eine Würgeschlange um seine Knöchel wand.
    »Braucht noch ein bisschen«, sagte Albert. »Tja, Geduld ist nie verkehrt, was?«
    Wenigstens wusste Joe jetzt, wo sie in etwa waren, da die kleine Insel links von ihnen verdammt nach Egmont Key aussah. Ansonsten gab es weit und breit nichts als Wasser und grauen Himmel.
    Ilario Nobile wich Joes Blick aus, als er Albert einen Leinenklappstuhl brachte. Albert setzte sich so, dass ihm das Glitzern des Wassers nicht in die Augen stach, lehnte sich nach vorn und verschränkte die Hände zwischen den Knien. Sie befanden sich auf einem Schlepper. Joes Stuhl lehnte an der Rückwand des Steuerhauses. Er ließ den Blick über das Heck schweifen und musste zugeben, dass sie genau die richtige Art von Schiff ausgewählt hatten; auch wenn man es ihnen nicht ansah, waren Schlepper ziemlich schnell und überaus wendig.
    Albert deutete auf Thomas Coughlins Uhr in seiner Westentasche. »Die geht nach«, sagte er zu Joe. »Schon bemerkt?«
     Joe konnte zwar nicht sprechen, aber er hätte ihm sowieso keine Antwort gegeben.
    »So eine sündhaft teure Uhr, und dann zeigt sie nicht mal die Zeit richtig an.« Albert zuckte mit den Schultern. »Selbst der reichste Mann der Welt kann den Lauf der Dinge nicht aufhalten, nicht wahr, Joe?« Sein Blick glitt über den grauen Himmel und das graue Wasser hinweg. »Das Leben ist ein Rattenrennen, und keiner von uns will Zweiter werden. Wir alle wissen, was auf dem Spiel steht. Wenn du Scheiße baust, bist du tot. Vertraust du der falschen Person, setzt du aufs falsche Pferd« – er schnippte mit den Fingern –, »schon bist du weg vom Fenster. Du hast Frau und Kinder? Pech gehabt. Du wolltest eigentlich den Sommer drüben im schönen England verbringen? Tja, Pustekuchen. Du hast geglaubt, du würdest morgen noch atmen? Essen, baden, eine Nummer schieben? Vergiss es, mein Freund.« Er stieß Joe mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Noch ein paar Minütchen, und du sitzt auf dem Grund des Golfs von Mexiko. Ade, schnöde Welt. Und wenn dir ein paar Fische in die Nase schwimmen oder an deinen Augen knabbern, kann dir das reichlich egal sein. Denn du bist im Himmel. Oder in der Hölle. Oder sonst wo. Nur nicht hier. Also genieße den Ausblick. Die gute Luft. Nimm ein paar letzte Atemzüge.« Er nahm Joes Gesicht in beide Hände und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Du bist schon so gut wie tot.«
    Der Zement war fest geworden, quetschte Joes

Weitere Kostenlose Bücher